10. Das Evangelium der Unschuld
„Dieses Males habe wiederum ich den Knüller des Tages für uns darbei, Freunde!“, strahlte Hans eines anderen Abendes. „Eine neue Evangeliumsschrift ist erschienen!“
„Unsinn! Eine neue ‚Frohe Botschafft’? Soll denn die alte etwa aufgehoben oder fortgelegt werden oder was?“
„Nein, aber corrigiert worden ist sie!“
„Oha, corrigiert? War die alte allso falsch? Ah, Hilfe!“, spielte Werner den Hofnarren.
„Jo, Werner. Dein Getue ist eine echte Hilfe! Dies Buch enthält einen Evangeliumstext, der dem Leser in Stil und Art geläufig vorkommt, halt so, wie man es aus den vier Evangeliumsschriften der Bibel kennt.“
„Warte einen Moment, bitte, Hans. In der Bibel stehen vier Evangelien, oder? Was meinst du jetzt allso mit den ‚vier Evangeliumsschriften’?“
„Du beweist schon wieder Condicioniertheit, mein Lieber, denn es ist gewohnheitlich ungeprüfte Sprachmode, zu sagen, in der Bibel seien viere Evangelien. Aber nur ein Evangelium ist in der ganzen Bibel, das allerdings in mehreren, verschiedenen Schriften verborgen ist, deren Viere ich ‚Evangeliumsschriften’ nenne, weil sie es immerhin in sich und ihrem Namen tragen. Diese Viere sind die dir geläufigen Schriften namens „Das Evangelium" nach Mt, das nach Mk, jenes nach Lk, und viertens das nach Joh. Aber in der ganzen Bibel ist dennoch nur eine einzige frohe Botschafft.“
„Nun, gut, Hans. So gesehen ist auch noch ein Evangelium nach Schaul Paulus in der Bibel, denn an einer Stelle schrieb er ‚tò euaggélión mou’, allso „mein Evangelium“ (Röm 2,16) und er sei ausgewählt, „das Evangelium Gottes“ zu predigen (Röm 1,1), wohingegen einige das „Evangelium Christi“ zu verkehren suchten (Gal 1,7); et cetera. Aber warum das so genau nehmen?“
„Um zu bewissen zu geben, dass eine Evangeliumsschrift nicht ein oder gar das Evangelium ist. Diese G’leichsetzung der Legenden um Jesus mit dessen froher Botschafft ist irrig, denn die frohe Botschafft ist doch nicht, dass Jesus angeblich in Bethlehem geboren ward oder mal in Nazareth, mal in Kefarnachum, oder in Betsaida oder mal in Jerusalem war oder mal mit einem Zöllner, mal mit einem Schriftgelehrten, mal mit einer Menschenmenge, dann wiederum mit Pharisäern sprach, noch dass er geboren, getauft, gegeißelt, gekreuzigt, gestorben und begraben worden sei. Das Alles sind Legenden mit austauschbaren Namen ohne die eine und einzige gute ‚Frohe Botschafft’. Diese oberflächliche, ja: unsinnige G’leichsetzung führte üb’rigens zu manchen sonderbaren Büchern, in einem derer von einem offensichtlich heidnischen Schriftsteller gänzlich ungeniert die Passionsgeschichte Jesu aus Sicht des Pontius Pilatus auch als „Das Evangelium nach Pilatus“ („L’évangile selon Pilate“) verkauft ward. Allso ist eine unfrohe Leidenslegende plötzlich ein "Evangelium". Perverser ist kaum möglich. Aber um zu klären, was eigentlich das Evangelium ist, müssen zuerst das Legendenwerk um Jeschua und die Wortlehre Christi einander verschieden werden.“
„Ach, das muss man aber auch nicht Alles so genau nehmen.“, empfahl Werner. „Sieh doch, wie das gar mit der Philosophie ist. War sie früher eine ernste, schwere Wissenschafft, hat jetzt jeder denkvermeidende Schwachmaat seine "eigene Philosophie". Austauschbare Firmen haben eine angeblich eigene "Verkaufsphilosophie" ohne jedwedes Ethos, Modallogik oder Kategorientafeln, und auch schon halb betrunkene Skatspieler "philosophieren" ja angeblich schon, wenn sie sich nur fragen, ob Herzkönig oder Pik-As schon gespielt worden sei oder nicht und welche Implicationen oder Consequenzen das für den fürderen Spielverlauf habe. Wozu sich darüber aufregen?“
„Aufregung ist das gewiss nicht wert, Werner; insofern stimme ich dir gern zu. Aber die Unterscheidung, die Differenzierung, ist eine Furche im Acker der Denkcultur. In ihr wird der Same des lebenden Denkens gesät. Aus diesem Samen gedeiht die Begeg’nung des Denkenden mit dem Unvernehmlichen, das nicht als Eigenständiges anwest, doch eine Handreichung des Denkenden an den Geist ist, die dieser beantwortet oder nicht, je nachdem, ob diese Handreichung in seinem Sinne geschieht oder nicht. Der schriftlich überlieferte Gedanke eines Menschen wird nicht dardurch neubelebt, dass jemand die Buchstabenfolge auswendig lernt und buchstäblich citiert, sondern dardurch, dass dieser Jemand sein Denken in diese Buchstabenfolge einfließen lässt. Ein unbewohntes Haus wird nicht dardurch neubewohnt, dass man es von außen ansieht, sondern indem jemand dort neuerlich und innen wohnt. Die überlieferten Buchstabengruppen sehen zwar so aus wie Wörter, werden aber erst durch Neubedenken zu Worten. Und nun sind viele Wörter überliefert worden, die Ähnliches nennen, das jedoch undinglich ist und erst gedanklich erschlossen werden muss. Nennen aber etwa ‚wollen’ und ‚wünschen’ etwas Selbiges? Oder wie ist’s mit ‚Buße’, ‚Strafe’, ‚Sühne’? Der Polizist spricht des ‚Bußgeldes’ für übermäßig schnelles Fahren etwa, das keinerlei Schaden mit sich brachte, den auszubessern oder wieder gut zu machen alias zu 'büßen' sinnvoll wäre, und nur insofern übermäßig schnell war, als die gemessenen 84 km mehr denn die erlaubten 70 Kilometer pro hora sind. Aber das sollst du „büßen“. Der Polizist weiß nicht, dass ‚Buße’ die „Aus-besser-ung“ nennt, wie der ‚Lücken-büßer’ die Lücke büßt, sprich: ausbessert. Er nimmt dir ein Strafgeld ab, nennt es aber prüflos andersherum, und suggeriert dir somit, du müssest dich bessern, obg’leich die staatlichen Einnahmen durch solche „Buß“-Gelder schon vor deinem Falle fest eingeplant waren und sind und die Staatscasse immense, unbüßbare Lücken bekäme, wenn die Leute allesammt geläutert wären, gebessert mit ihren Wagen führen und allso nicht mehr zahlen müssten. Du siehst allso, wenn du ein ‚Bußgeld’ zahlen darfst, dann zu ’m Lückenbüßen der dürftigen Staatscasse, wobei du dann dein Geld vermeintlich "einbüßt", obdoch du es nur verlierst. Das sagt dir aber der Polizist nicht, der von der Richtigheit und Trefflichheit der ihm gewohnten, dogmatisch vorgelegten Wörter überzeugt ist und dir im Gegenteile noch eine harsche Strafpredigt obendarein giebt, weil er an unmögliche Causalität, an Schmerzpädagogik und an "die Wahrheit" eines Schadens durch Geschwindigheitsübertretung g’laubt, der nicht geschehen ist, weil du niemanden an- oder gar überfuhrst. Aber den Sinn der Buße gewinnst du so nicht. Und so deutet und g’laubt denn auch mancher, Buße zu tuen sei etwa: Schmerzen zu erleiden oder Geld zu verlieren. Aber was wird durch Schmerzen oder Verluste besser? Nichts. Allso ist der Gedanke Unsinn! Und zu ’r Sühne, wenn du sie als "Strafe" auffasst, gelangst du so erst recht nicht, weil der Name ‚Sühne’ letztlich eine „Entsündigung“ nennt, die jeder tätlichen Gewalt, allso auch der Strafgewalt abhold ist; sie ist aber die Entsündigung in vollem Maße. Wer wollte dies gedanklich erschließen, der nicht den Sinn der Wörter bedenkt, die er hört und spricht? Wie dem aber auch sei, kannst du erst dann eine frohe Botschafft dir im seelischen Sinne aneig’nen, wenn du weißt, was sie ist. Wie lang du sie mit unfrohen Legenden oder historischen Tatsachen verwechselst, so lang kann sie sich dir nicht als „froh“ erweisen.“
„Einverstanden, Hans.“, schmunzelte Werner. „Ich wusste bis her noch nicht, dass man solch große Reden über solch geringe Unterscheidungen halten könne. Aber ich bekenne, dass mir das wohl gefällt und auch einleuchtet, was du sagst, Was aber ist denn allso nun eigentlich und wahrhaftig "das Frohe" an der ‚Frohen Botschafft’?“
„Gute Frage; wohl gefragt! Die Ewigheit des Lebens, allso die Ewe, ist der erste Aspect, der "das Frohe" als heilsammes Gegenstück zu der Angst vor dem Tode bietet. Die Unschuld ist der zweite Aspect, der "das Frohe" als heilsammes Gegenstück zu der Angst vor der Schuld darreicht. Und die Liebe ist der dritte Aspect, der als heilsammes Gegenstück zu der Angst vor dem Mangel gegeben wird.“
„Klingt schematisch.“, commentierte Jan.
„Jo. Und so höre ich das zu ’m ersten Male überhaupt! Allso Ewe oder Ewigheit, Unschuld, Liebe, diese drei, ja? War das bei Paulus nicht anders?“
„Ja, wenn auch nur leicht anders. Ewe, Unschuld, Liebe. Aber viel Anderes meinte auch er mit seinen dreien: ‚G’laube, Hoffnung, Liebe’ nicht, denn statt ‚G’laube’ alias ‚pistis’ wagten die hellenisch schreibenden Menschen jener Zeit Pauli nicht, etwa „Eingegeistetheit“ oder „Eingeistung“ (etwa: ‚eispneumeia’) poetisch oder wortschöpferisch zu construieren. Dies wagt nur der, wer des Geistes ist, erstens zu wissen, dass der Name ‚Geist’ kein starres Ding, sondern eine wenn auch nicht zu verfolgende Bewegung in ungreifbarer Ruhe nennt und allso eher als Verbum denn als Substantivum genannt werden sollte, und zweitens zwischen ‚g’lauben’ und ‚geisten’ zu scheiden und deswegen das „wer an mich g’laubt, auch wenn er stirbt, er wird leben“ aus Joh 11,25 zu „wer in mich hineingeistet, auch wenn er stirbt, er wird leben“ zu verwandeln, denn nur zu g’lauben, wie halt einer dem andern g’laubt, dass er nicht lüge, ohne darbei das zu ersehen, was der mit dem meint, das er sagt, ist unbefriedigend und zu wenig.“
„Sagenhaft! Und du kannst die Wörter einfach nach deinem Gutdünken verändern?“, fragte Werner erstaunt.
„Hörtest du dies nicht gerade?“
„Mein lieber Mann! Ich höre, dass du dies zu tuen vermagst, jedoch weiß ich nicht, ob du das mit Erlaubniss oder mit Vollmacht tust.“
„Das sagte man auch zu Jeschua alias Jesus! Wessen Erlaubniss oder Vollmacht sollte ich mir darzu einholen?“
Zunächst guckte Werner verblüfft. Dann sprach er im Tone einer Frage: „Die der anderen Sprecher?“
„Gut, dass du nicht darbei warst, als unsere Sprache erfunden ward. Dann hätte man mit dir und Allen über diese Erfindung abstimmen müssen. Oder als sie erweitert ward, wärest du gar dargegen gewesen? Oder hättest Du plaidiert, hundert Wörter seien doch genug, und zweihundert seien schon zu viele?“
„Na, gut.“, grinste Jan. „Aber denkst du denn, dass die anderen Leute das auch so sehen wie du, und dies neue „Evangelium der Unschuld“ etwa ein Verkaufsschlager werde?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Wieso ‚natürlich’?“
„In der Natur des Menschen, allso in seiner Geborenheit, liegt die gewohnheitliche Verfallenheit an die Welt. Und in der Welt wohnen die von Geburt an kranken Iche, welche an und unter den Krankheiten Angst, Mangel, Tod und Schuld dauerhaft leiden. Dargegen träumt der Mensch an, mit weltlichen Mitteln dennoch g’lücklich zu werden, allso zu allererst Geld, dann nochmales Geld, darnach körperliche Gesundheit, gefolgt von Erfolg im günstigen Sinne bei möglichst Allem, was versucht und getan wird, glänzende Besitztümer, rühmenswerte Taten, et cetera. Und nun kommt jemand, der den um das G’lück in der Welt träumenden Menschen sagt: „Nee, Leute, das ist Alles nichts mit euerer G’lücksträumerei! Das ersehnte G’lück in der Welt ist so vergänglich wie sie, und Schuldige findet ihr darfür nur, weil ihr an die Schuld g’laubt, die aber in Wahrheit nichts und in der Welt nur eu’re Erfindung, allso letztlich eitel Unsinn ist.“ Und das sagt er ihnen auch noch in einer ihrer Gewohnheit abweichenden Sprache, die sie bewegt, sich derweil des Lesens zu sammeln und gewohnte Fehler prüfend zu überdenken und womöglich die Bestandteile neu zu fügen. Das fordert von ihnen ja wiederum etwas ab: sie müssten sich ja sammeln, ihr bisheriges, ungeprüftes Denken überdenken, et c.; und darzu sind sie kaum bereit. Sie bevorzugen doch das prüflose Trotten auf ausgetretenen Pfaden ohne die schlimme Anstrengung des Denkens und Lernens! So liegt es allso in der Natur des Menschen, dass er ein solches Buch nicht zu lesen wünscht, geschweige denn zu kaufen. Zudem ist er nicht der erste, der ein „Evangelium der Unschuld“ schrieb, denn ich kenne ein Buch des Namens „A Course in Miracles“, zu deutsch: „Ein Kurs in Wundern“, das letztlich auch nur das Evangelium, sprich: die „Frohe Botschafft der Unschuld“ enthält, wenn auch nicht in Gestalt der biblischen Jesus-Legenden, sondern in Gestalt eines Lehrcurses, der das irre ichige Denken mit meditativer Hilfe des heiligen Geistes zu berichtigen anbietet. Allso wird natürlich, nämlich der "Natur g’leich" oder ihr gemäß, dies Buch höchstvermutlich kein Verkaufsschlager.“
„Und wieso schrieb der Autor denn ein solches Buch? Wusste dies nicht auch er schon zuvor? Wie ich mir denken könnte, wusste er es!“
„Das vermute auch ich, Werner. Er wusste es. Aber es sollte geschrieben werden, ob es ein münzenträchtiger Verkaufsschlager werde oder nicht, denn der Inhalt ist dennoch das Jenige, das wir in der Tiefe unserer Verzweifelung an der Welt und an unserer scheiternden Suche des G’lückes ersuchen und ersehnen. So, wie auch bei dem anderen genannten Buche. Auch das ist vermutlich kein Verkaufsschlager, weil es besonders dick ist und einen Meditationsteil enthält, mit dem die wenigsten Leser etwas anzufangen wissen dürften. Und dennoch ward dies Buch immerhin geschrieben, gedruckt und verlegt.“
„Dieses Buches habe ich noch nie gehört. Aber sage, wieso verzweifeln wir an der Welt? Ich dachte immer, ich verzweifele an bestimmten Aspecten und Missständen der Welt, aber doch nicht an der Welt als Ganzer.“
„Das ist der Denkfehler! Die Welt bietet immer Missstände, weil sie in toto ein Missstand ist. Aber den Blick auf Einzelheiten zu richten, sodass das Ganze aus dem Blicke gedrängt wird, ist wieder typisch für unsere Ego-Cultur. Siehe das Geschehen daraußen in unserer Stadt! Es ist das große Irrsal der Leute, die allesammt Geld suchen, zu dessen Erwerb ihre Zeit mit toten Dingen vergeuden, eine ohnehin begrenzte Zeit, die besser mit dem Erlernen des wirklich Wichtigen gefüllt werden sollte oder möchte. So stehen sie des Morgens auf, frühstücken, lesen derweil vielleicht Zeitung und werden so von den zumeist gottlosen Wirtschafftscommentatoren verhetzt oder von geistlosen Politmoralisten geblendet oder von gemütlosen Informationsparasiten trüblich, von Sportschmarotzern anpreiserisch eingelullt oder von geradezu sadistischen und trostlosen Katastrophentrittbrettfahrern grausämmlich erschüttert. Dies ist ihr perverses morgendliches Gebet. Anstatt zu beten: „Ich bin die Liebe“, um der Wahrheit gemäß dem Irrsinne der Welt getrost begeg’nen zu mögen, beten sie „Ich bin das Opfer des Hasses, der Armut und der zahllosen Bedrohungen der Welt“, und zwar das „Opfer“ vor allem der Zeitung oder dem Radiosender, die oder der diesen Gedankenmüll gegen Entgelt bei diesem Leser oder Hörer alltäglich schamlos ablädt. Nach solcher doch nur nach unten ziehenden "Meditation" fahren die Leute zu der Stätte ihres geistlosen Malochens, sei es an einer seellosen Maschine, sei es an Schreibtischen mit seellosen Acten und den die Menschen verachtenden Dienstvorschriften, und bleiben auch fürderhin trau’rige, wehrlose Empfänger. Das üb’le Morgengebet der grauen Geier der Wirtschafft, der ebengrauen Ratten der Politik und der grauherzigen Verbrecher des Weltfriedens wirkt nach. Voller Grimm und Stumpfsinn lechzt der Mensch nur noch nach dem toten Mammon, um endlich der Fron entkommen zu können, um endlich zu leben. Er wunschträumt des toten Geldes, um zu leben; ist das nicht pervers? Erzählt dies nicht schon alle Verzweifelung an der Welt, in der wir wohnen?“
„Mein lieber Mann! Welch ein G’lück, dass du nur als Freund vor uns, in kleinem Kreise solche Worte schwingst, und nicht als Politiker vor aus Unrechtsleiden bis zu ’m Bersten gespannten und erhitzten Massen, die nur eines Funkens harren, um zu explodieren und dann einen Bürgerkrieg über das Land zu feuern!“
„Und zudem klingen solche harten Worte schon wie eine massive Schuldzuweisung.“, commentierte ich schmunzelnd. „Hans? Wie ist dies? Sind diese Leute schuldig?“
„Aber gewiss doch sind sie schuldig!“, grinste Hans belustigt. „Aber sie sind dies nicht, weil ich ihnen Schuld zuspreche, sondern weil sie gedanklich zumeist in der Schuld wohnen und mit ihr auch noch tagtäglich ein sonderbares Geschäfft treiben. Die Schuld ist die Tapete im Wohnzimmer ihres Weltdeutungshauses. Sie g’lauben und leiden an Schuld; ergo sind sie 'schuld-ig', sprich: "durch Schuld bestimmt". Jemand, der an einer Krankheit leidet, ist unleugbar krank; wer an Schuld leidet, ist schuldig. So ist das. Aber das sage ich nicht etwa als Ankläger oder Beschuldiger, wohl gemerkt, Freunde! Schuld ist das, was die je eigene Welt und die große Weltenschnittmenge im Innersten zusammenhält. Sie ist das, was Faust suchte.“
„Schuld ist eine Krankheit; einverstanden. Und nun kommt jemand und predigt Unschuld, so, wie der Schreiber des „Evangeliums der Unschuld“ oder die des „Curses in Wundern“. Das predigtest du bis her aber nicht, Hans. Du hieltest statt dessen eine schuldvolle Rede gegen die Welt.“
„Ja, das mag so geklungen haben, aber dies liegt erstens darin begründet, dass ich zunächst eu’ren Blick auf den Grund der Schuld lenken musste und zweitens, dass ihr zumeist in Schuldkategorien denkt und alles Vernommene auswertet.“
„So, so.“, schmunzelte ich.
„Und dieser Grund“, fuhr Hans unbeirrt fort, „ist eben unser Traum, in dieser vergänglichen, "mater"-iellen Welt, die wir wie unsere "Mutter" alias lateinisch ‚mater’ deuten, das G’lück zu finden. Aber die Unschuld eröff’net sich erst dem, der bereit ist, diesem Traume zu entsagen. Und darzu wiederum muss erst die Liebe anwesen respective in ihrer Anwesenheit entdeckt werden. Sie allein spendet uns die Alternative zu der Welt. Liebe ist der Geist unserer wahren Heimat.“
„Und was ist nun die Unschuld?“
„Lasse mich zu der Beantwortung dieser Frage nochmales ausholen! Die Entstehung der Schuld wird, wie jeder Bibel- und Torahleser weiß, im Buche Genesis mit der Sündenfalllegende (1.Mose 3,1ff) zu erklären versucht. Aber die nicht von Zeitzeugen ersonnene Legende erzählt nur, ohne zu klären. Sie erzählt eines von Gott erteilten Verbotes, das von den zwei exemplarischen Menschen jener Zeit nicht befolgt ward. Durch deren tätliche Missachtung des Verbotes sei die Schuld entstanden, die eine Bestrafung nach sich zog, nämlich die g’nadenlose Vertreibung aus dem „Garten Eden“. Diese Genealogie fällt insofern sonderbar aus, als sie erstens Etwas entstehen lässt, das nicht von Gott erschaffen worden ist (nämlich die Schuld), zweitens Gott zu ’m Verursacher der ersten Grenzen in der grenzenlosen Schöpfung setzt (nämlich durch das Verbot), und drittens das Erleben der Schuld ursprünglicher Menschen gänzlich unbeachtet lässt, sodass der tatsächliche Beweggrund für die Setzung der Verbote und Gesetze unbenannt bleibt (nämlich die versuchte Schuldvermeidung). Statt dessen geht sie einen Schritt fürder, indem sie ein von Gott schon vor jedem Verbrechen gegebenes Gesetz (nämlich das Verbot, jenes Baumes Früchte zu essen) annimmt, dessen Brechung ohne jeden Schaden oder Schmerz zu erwirken oder sonstige nähere Erklärung seitens der Legendenerfinder einfach Schuld erbringe, als sei Schuld nur die nackte Tatsache, dass ein Gebot eben gebrochen worden sei. Das erklärt aber doch nicht das tödliche Gift in der Anklage gegen diese Tatsache. Und wie aber hätten Gottes ursprüngliche Kinder, erfahrungs- und belehrungslos, wie sie waren, wissen mögen, was ein Verbot sei? Unter ursprünglichen Menschen aber wird Schuld anders erschlossen, nämlich wird der Jenige als "schuldig" empfunden, der Schaden und Schmerz nach causaler Deutung der Geschädigten tätlich erwirkte. Das Gesetz (oder im Falle des 'Pentateuch' besser: die "Weisung") ist jedoch erst die Folge der Erfahrung des Schadens und des Schmerzes, nämlich als ein Versuch, diese künftig durch Verbot der Schadenserwirkung und der Schmerzzufügung zu vermeiden. Die Weisung war allso nicht schon vor der ersten Schuld sozusagen a priori dar, sondern sie ward erst dem ersten Leiden, das in Schuld verwandelt worden war, nachgereicht, womit jedoch das Entstehen der Schuld verborgen ward. Dieser Weisung die größte Achtung zu verleihen, ward sie viele Generationen später als vom Höchsten stammend sinnbildlich erzählt (was ja nicht gänzlich falsch ist: Wenn der Ewige, der Höchste, die Liebe ist (1.Joh 4,16) und Schadens- oder Schmerzzufügung nicht der Liebe getreu sein kann, ist das Gebot, solches Tuen zu unterlassen, durchaus von der Liebe und allso vom Höchsten stammend, aber es ist nicht vom Himmel gefallen oder vom Unendlichen in endlichen Stein geblitzmeißelt worden, sondern durch die Gespräche und die Gemüter beratender Menschen entstanden!). Diese Weisung zu brechen, lässt Schuld entstehen, aber eigentlich nicht durch die bloße Brechung, sondern durch die Folge dieser Brechung, nämlich durch den so erwirkten (wenn auch nur vermeintlichen) Schaden oder Schmerz. Jemand, der in der bloßen Brechung der Weisung schon Schuld sieht, hat sich von der ursprünglichen Anschauung bereits entfernt und ist als Erzähler der Entstehung der ersten Schuld untauglich. Er besteht nur noch geistlos auf der bloßen, buchstäblichen Befolgung der Weisung, einerlei ob dies unmenschlich ist oder gar nur neuen Schmerz nach sich ziehe. Der ursprüngliche Sinn der Weisung ist aber nicht, als unfrohe Grundlage für eine unsinige Schuldigwerdung zu dienen, sondern eine Unschuld durch Schuldprävention zu gewähren. Diese erstrebte Unschuld zerfällt aber im Falle des Weisungsbruches unverzüglich, und die Schuld ist an ihre Stelle gerückt. Diese erstrebte, zerbrechliche Unschuld ist somit nur der Gegenpol zur Schuld innerhalb des Dualismus’ ‚Schuld - Unschuld’ und bleibt unstet, jeder Zeit durch Weisungsbruch zu verlieren. Der Sinn der Weisung, nämlich die Unschuld zu stiften, bleibt auf dieser Ebene letztlich unerreichbar, unerfüllbar.
Wenn Jeschua sagte, es solle an der Weisung kein Jota (wohl eher kein Jod) und kein Tüttelchen vergehen, sondern sie solle erfüllt werden, obg’leich er im selben Atemzuge etwa die in flagranti ertappte, allso iuristisch erwiesener Maßen schuldige Ehebrecherin nicht schuldig sprach, kommt eine Unschuld in höherer Dimension hinzu. Diese Unschuld ist nicht das Noch-nicht-schuldig-geworden-Seien im Sinne der Unschuldsprävention der Weisung, sondern eine Eigenschafft des von der Liebe Erschaffenen trotz seiner möglichen oder gar erwiesenen iuristischen Schuld. Diese höhere, ewige Unschuld ist der noch zu erfüllende, eigentliche Sinn der Weisung, die nicht durch nur buchstäbliche Befolgung erfüllt werden kann, sondern der durch geistliche Anwendung erfüllt wird.
Um die Unschuld, diese Eigenschafft des von der ewigen Liebe Erschaffenen, zu gewahren, muss zunächst zwischen Welt und Schöpfung geschieden werden. Diese beiden als selbig zu erachten, ist die größte Hürde zu ’r Vergebung der Schuld, denn durch die G’leichsetzung scheint ein in der Welt entstandener Schaden auch in der Schöpfung verbrochen worden zu seien. Wenn dies gelänge, etwas in der unwandelbaren Schöpfung schadhaft zu verändern, dann wäre dieser Schaden wahr und die Schuld wäre ein Keil in der Wahrheit, die somit dualistisch verzerrt würde. In der Welt trifft dies ja auch zu: Jeder Mensch wird in Folge der Zerstörlichheit und des Irrens unwollentlich schuldkrank. In der Schöpfung aber bleibt er heil und unschuldig, weil Zerstörung und Irrtum ausgeschlossen sind. Den in der vergänglichen Welt entstandenen Schaden als zwar real, jedoch als unwahr zu bemerken (weil allein der Christus die Wahrheit ist und dieser kein Schaden sein kann, weil Er der Heilende ist), setzt voraus, dass eine unbeschädigte Schöpfung besteht, obwohl die Dinge der Welt zerstört werden oder schon worden sind. Und doch ängsten die Menschen immer um den Erhalt ihrer Welt, die vergänglich ist und immer auch schon vergangen ist. „Um die (oder in der) Welt seid ihr in Angst, aber seid getrost: ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16,33). Jenseits der vergänglichen und schon vergangenen Welt aber blüht die liebliche Unschuld der Unvergänglichheit der goldenen Schöpfung. Wer aber an die unewige, unheile Welt als wahr g’laubt, nur weil er körperlich mittig darinnen ist, nichts Höheres vernimmt und nur seinen Vernehmungen als Pforten zu ’r Wahrheit g’laubt, der weist auch der in ihr entstandenen und als Schaden gedeuteten Veränderung leichthin „Wahrheit“ zu. Und er tut dies so unwillkürlich, so unbewissentlich, so festg’läubig, dass er gar Gott, dem heiligen, gerechten Vater, unterstellt, auch Er denke in dualistischen Kategorien und sehe die Schuld (so die Verheißungen der verlogenen Schlange: „Ihr werdet seien wie Gott und sehen gut und bös“), die Er erst durch die grausamme „Opferung“ seines einzigen Sohnes - der ein anderer Einzelmensch sei denn wir Alle - vergebe oder habe vergeben können, obwohl sie immer neu in den Wertungen derer entsteht, die g’lauben, sie seien aus ihr erlöst worden. Solche Verzerrung geschah und geschieht allein aus dem ungetrösteten G’lauben an die Wahrheit der Welt und der Schuld.
Die Schöpfung unseres Vaters aber ist trotz aller Spaltungsgedanken für immer eins. Möge dies allen Menschen klar werden, nämlich in Wahrheit, allso in Christo eins zu seien.
Unschuld aber ist der wahre Zustand in unserer Heimat. Diese Heimat ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist nicht nur das ewige, sondern auch das unschuldige Leben. Dies ist das Himmelreich; es brach mit dem letzten Abendmahle unter Jeschua und seinen Gefährten an! Die Wiederholung dessen ist die Besinnung auf diesen Anbruch. Aber eben immer auch die Besinnung auf die Unschuld auf höchster Ebene, welche unsere wahre Heimat ist. Unsere Welt aber ist als vergängliche und zerstörliche nicht unsere Heimat und keine Wahrheit. “
„Einverstanden, Hans. Schön gesagt. Aber wie können wir von ihr, der unwandelbaren Wahrheit unserer ewigen Unschuld, wissen?“
„Nur durch Versenkung und Erfahrung der großen G’nade.“
„Gut. Aber dies ist dem der Welt verfallenen Menschen so fern, dass er kaum dorthin findet. Bedenke, dass auch Henryk Sieniewicz in „Quo vadis?“ noch so, wie die Heidenchristen in Rom einst, dachte, die christliche Botschafft sei zu allererst der Auftrag, an nur einen Gott und den lieben Jesus als den einzigen Sohn Gottes zu g’lauben, gut zu seien und Böses zu unterlassen. So versucht „man“, allso der allgemeine Mensch, immer zunächst den Weg zu ’r Unschuld zu gehen, wie du sagtest, durch Schuldprävention. Es ist der weltliche Weg, der noch in der Welt zu verbleiben sucht und in Folge dessen spirituell nirgend hin führt. Und so g’lauben auch die meisten Kirchenmitglieder in dieser Zeit. Wie können sie die Unschuld gedanklich erschließen, Hans? Sie finden keine Ruhe zu ’r Versenkung und sie erfahren die G’nade der Vergebung zumeist nicht, weil die meisten ihrer Seiensgeschwister ebn so ohne diese Erfahrung sind und nicht christlich handeln.“
„Das trifft zu, was du sagst. Tja, was soll ich darauf sagen? Ich bin ohne eigene Macht. Mir bleibt nur mein Bekenntniss zu der inneren Versenkung in das Wort, dass Gott die Liebe ist und ich als Seele ein Fünklein Gottes bin, allso ein Fünklein der Liebe. Dies ist mein tiefer G’laube. Und unsere Unschuld erachte ich als die eine ‚Frohe Botschafft’ für uns.“
„Der klingt zwar schön, kann mich aber nicht trösten, wenn ich das Elend in der Welt sehe und mir die Tränen in die Augen quellen!“
„Wenn der Schmerz acut ist, dann tröstet leider nichts.“
„Jo, denn könnten wir zu unserer Tröstung genauso gut noch ein Gläschen heben! Oder was?“
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.
Ein neues Evangelium, das, wie hier zu lesen ist, "kein Kassenschlager werden wird", das wollen wir lesen. Unbedingt!
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