16. Das Lied des Gebetes
Eines Abendes sprach Hans besonderer Gestimmtheit und bewegten Tones zu uns: „Die meisten Menschen, obwohl noch nicht gestorben, leben nicht, sondern weilen nur tot in ihrer leblosen Welt und verwalten den Tod. Jedes Tages, jedes Stündchens, immer vegetieren sie liebarm und den Geist zu vermeiden suchend nur vor sich hin und verwalten ihren eigenen Tod, der ihre angstbeladene Version des Sterbens und des Nichts darnach ist.“
„Und wieso bist du nun so afficiert darvon? Du bist doch sonst stets überlegen, allso über den Dingen gelegen, dass dich solche weltlichen Übel nicht berühren, Hans, oder?“, fragte Jan feinsinnig.
„Das täuscht, mein Lieber. Es berührt mich immer alles, auch wenn ich nicht dardurch so toll, wie ein Irrer, hin- und herzucke. Nun aber bin ich ernstlich bewogen, mit euch das Wort zu teilen, um den Geist einzulassen. Das Wort, das ich meine, meine Freunde, ist mehr denn „ein Name mit Hinzugedachtem“. Das Wort ist das Gefährt des Geistes, soweit wir seiner nicht rein geistlich sind. Der Geist ist die Liebe, das Licht, das Leben. Und wer das Wort recht achtet und in dessen Tiefe hineinsinnt und es dort erhorcht, der mag dem Geiste durch es oder in ihm begeg’nen. Wer aber immer nur tötlich denkt und todweltlich lernt, der bleibt stets nur ein toter Weltling ohne Liebe, ohne Licht. Wer nicht betet, der wird nie ein Mensch, sondern er bleibt für sich ein fellloser Sprechaff, ein Skelett mit Seele, trotz der Seele, allein die er in Wahrheit ist, was er jedoch nicht erschließen kann, weil er in der Welt als Körpertier bleibt, das ohne Erkenntniss bleibt, wenn er nicht vom Geiste zu ’m Leben geküsst wird. Er mag und möge aber Mensch werden. Darzu bedarf er der Erschließung des Wortes, das es des Gebetes würdig werde. Und als werdender Mensch muss er doch aus der unmenschlichen dunk’len Allerweltssprache in eine menschliche, höhere Sprache hinein werden. Deine Worte sind deine Gedanken. Ein Wort ist ein Dacht. Euer Gewört ist euer Gedächt, meine Freunde! Wenn aber deine oder deine“ – hierbei blickte er abwechselnd Werner und Jan an – „Worte Allerweltsworte sind, dann sind dies auch deine Gedanken. Undurchdachte und prüflos nachgelaberte Modephrasen wie „Das ist kein Thema“, obwohl es gerade doch das Gesprächsthema ist, oder „Der Weg ist das Ziel“, obdoch wir immer nur besten Falles auf dem Wege sind, ohne das Ziel derweil zu erreichen (nach Vincenz von Paul), zeugen doch nur von geistlosem Quatschen, nicht von menschlich beseeltem Sprechen.“
„Das klingt beinahe poetisch, Hans. Aber wenn der Christus der Weg ist (Joh 14,6), wieso mag dann der Weg nicht das Ziel seien?“, fragte ich.
„Das ist gut, mein Lieber; das lasse ich mit Vergenügen so klingen, stehen und schweben, wie du es gerade sagtest. Aber du denkst nicht ernstlich, dass die Jenigen, die den Spruch prüflos modehörig nachquatschen, ihn in deinem tiefgründigem Sinne aussprächen oder gar dächten, oder vermute ich fälschlich?“
„Nein, tust du nicht. Allso sind wir einverstanden, Hans. Aber was meintest du mit ‚beseeltem Sprechen’? Mag ein Nicht-Lebewesen beseelt werden oder seien?“
„Wieso? Lebt denn die Sprache nicht?“, gegenfragte Werner grinsend.
„Nein. Dass sie lebe, deuten die jenigen Leute, die sie zumeist durch Fehler und Verstumpfung verändern, und dann diese Veränderung ihr zudichten, als habe sie diese eigens angerichtet.“, sprach Hans knapp und dann, zu mir gewandt: „Schöne Frage, mein Lieber! Die beseelte Sprache ist ein Lied, und zwar das Lied des Gebetes. Und die Seele ist das Leben darinnen.“
„Gut! Ein Lied ist ein vertontes Gedicht. Aber das Lied des Gebetes basiert auf welchem Poem? Oder auf welchem zu betenden Gedichtstext? Oder was wird darin besungen?“
„Im Liede des Gebetes wird durchaus ein vertontes Gedicht gesungen; man muss es nicht so nennen, aber es gefällt mir, was du und wie du es sagst. Und nun werde ich auch des Textes eines Gedichtes wieder inne, das ich aus alter Zeit her kenne. Einst ward es mir als Hymnus in lauer Vollmondnacht ersungen. Es könnte oder möchte als Denkgefährt des Liedes des Gebetes dienen. Das Gedicht ist das Folgende:
Reite auf meine Reite sänftlich auf meinem Herzen, Licht,
Und strahle aus meinem Seelenfenster!
Weise der Nacht, wes ihr Unwesen g’bricht,
Und liebe hinfort wahne Weltgespenster!
Das Wahre allein wesest einzig Du,
Und all’ Schatten ist irre Blindheit und Schmu.
Wenn Du zärtlich hinausstrahlst aus mir hin,
Dann schauest in jeder Nächstenseele
Einzig Dich selbst; nämlich Du bist ihr Sinn,
Und Leibesverhüllung Dir nichts verhehle!
Du wesest mir und auch ihr das Du,
Allso einend bist unser Du immerzu.
Nun, meine Freunde? Was sagt ihr zu diesem Gedichte als einem Liede des Gebetes?“
„Schön; Hans. Aber warum sangst du es uns nicht?“
„Ich sang es Euch gerade.“
„Ich meinte mit ‚singen’ aber: „mit Singstimme melodisch singen“; das tatest du nicht. Warum?“
„Um Euch die ohnehin gesungenen Worte nicht tönend zu übersingen, mein Lieber. Der Ton des zusätzlich gesungenen Sanges hätte den Gehalt der Worte vielleicht verblasst.“
„Das ist bemerkenswert gesagt! Aber wie ist dies Gedicht dem Worte der beseelten Sprache g’leich?“
„Wiederum eine schöne Frage, mein Lieber! Dies Gedicht enthält die Grundgesinnung des liebenden Menschen, der erstens das gegenteilslose Licht als die einzige Wahrheit erkennt, und zweitens dies Licht als seinen Hüter und drittens in diesem Lichte und durch des Lichtes Geleit die Liebe, die ihn und seinen Nächsten selig vereint.“
„Wie erfuhrst du dies?“, fragte ich ihn.
„In der Begeg’nung.“, lächelte Hans. „Dies ist ein wunderbares Wort, denn wenn wir es oberflächlich hören, dann scheint es nicht viel zu sagen, weil wir - so gehört - alltäglich diesem und jenem in tausend Gestalten zu begeg’nen scheinen. Wenn wir diesem Worte aber in der Tiefe lauschen, dann kommt zu der nur räumlichen Entgegenkommung eine geistliche hinzu, und so sind wir vor einer Offenbarung. Und Ähnliches muss auch Martin Buber erfahren haben, dass er sagte, alles wirkliche Leben sei Begeg’nung. Und so erlauscht, ist dies Wort ‚Begeg’nung’ wahrhaftig wunderbar, weil in ihr das Wunder die graue, tote Masque der Welt lächelnd durchglänzt. So begeg’nete mir nicht nur eines schönen Stündchens, sondern mehrerer schöner Stündchen in der meditativen Versenkung immer wieder das Licht, das ich als Liebe empfand, welche ewig lebe. Und diese Dreiergestalt ohne Gestaltsumrisse warden von mir als Wahrheit erkannt. In der prüfenden Nachdenkung dieser Empfindungen fand ich die Übereinstimmung des meditativ Gewonnenen mit den für mich wichtigsten Worten des Neuen Testamentes, was ich als zusätzliche Bestetigung erachte.“
„Welche sind dir die wichtigsten Worte?“
„Erstens: ‚Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsterniss.’ (1.Joh 1,5). Zweitens: Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und ER in ihm.’ (1.Joh 4,16). Drittens: ‚Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.’ (Joh 14,6). Viertens: ‚Der Sohn und der Vater sind eins.’ (Joh 10,30). Alle weiteren Sätze sind Ableitungen ab diesen. Nacht und Schatten sind allso keine Wahrheit, auch übertragen nicht; so kam ich zu dem Gedichte.“
„Beachtlich! Aber welche „wahnen Weltgespenster“ des Gedichtes sollen denn fortgeleuchtet werden?“, wünschte Jan nun zu wissen.
„Oh, ein schöner Fehler! Im Liede sang es: ’und liebe hinfort’, nicht: ‚leuchte hinfort’“.
„Ja, aber angesungen ward doch das Licht, allso kein Fehler in der Sache.“
„Einverstanden, mein Lieber. Eines der Weltgespenster ist die Krankheit.“
„Welche Krankheit meinst du?“
„Jede Krankheit. Die Krankheit überhaupt und innerhaupt.“
„Innerhaupt?“
„Ja, innerhalb des Hauptes, so, wie ‚überhaupt’ oberhalb oder über dem Haupte meint.“
„Und diese Krankheit soll hinfort geliebt werden? Wie geschehe uns dies?“
„Zunächst möge uns klar werden, dass Krankheit nicht Wahrheit ist, auch wenn sie wirklich und im medicinischen Sinne real seien mag.“
„So weit sind wir schon gekommen. Wir leben ja ohnehin in einem sonderbaren Verhältnisse zu der Wahrheit, dass sie so unwirklich und irreal ist.“
„Nun, denn, weil die Krankheit nicht wahr ist, müssen wir sie auch nicht sehen oder fühlen oder sonstwie bestetigen.“
„Und wie das? Sollen wir den Kranken vielleicht gesund g’lauben?“, fragte Jan.
„Hoho! Das gelingt euch nicht!“, unterbrach Werner jäh auflachend. „Das versuchen auch die Dummen immer, nämlich ihre Niedergeistigheit wegzug’lauben, indem sie sich als intelligent ausgeben und sich darbei kritiklos leichtfährtig g’lauben, ohne etwas zu tuen, um diese angebliche Intelligenz zu beweisen. Aber sie bleiben so dumm wie sie zu seien zwar einerseits nicht wünschen, anderseits jedoch so bequemlich ausleben, dass sie ihre Dummheit dardurch allen beweisen.“
Hans lächelte zwar, ließ sich aber nicht beirrigen und sprach, gleichmütig Jans Frage entgegenwortend: „Gesundg’lauben reichte nicht. Das spräche der Krankheit erstens Echtheit zu und gelänge zweitens nicht. Wenn du den in Wahrheit heilen Menschen einen Kranken nennst, dann g’laubst du schon an die Krankheit, so, wie innerhaupt er daran g’laubt. Deine Namen sind deine Gedanken. G’laubst du aber an die Krankheit, kannst du sie nicht zug’leich hinfortg’lauben.“
„Leuchtet ein. Aber wie denn?“
„Eines krank scheinenden Bruders Krankheitsunmöglichheit bemerken.“
„Das wäre schön. Aber wie gelänge das? Und liefen wir nicht Gefaar, die Realität zu verlieren? Seine Krankheit ist ja real, wenn auch nicht wahr.“
„Solcher Realitätsverlust wäre aber als Wahrheitsgewinn gewiss kein zu beklagender Verlust, oder?“
„Schön gesagt! Aber wie sei diese Krankheitsunmöglichheit zu ersehen?“
„Zunächst in der logischen Vorbereitung: Wenn das Leben die Wahrheit ist und diese ewig unwandelbar ist, dann mag das Sterben dieses Lebens unmöglich seien, zumindest unmöglich wahr seien; das klinisch beobachtete Sterben ist allso kein Sterben des Lebens, sondern des Körpers, den das Leben verlässt. Allso ist das Leben die Seele, nicht das Fleisch; sie ist das Leben in ihm, bis sie ihn verlässt. Und nur dies Fleisch erkrankt bis hin zu ’m Sterben. Wer dies als den Tod deutet, der leug’net das Leben der Seele und sucht den bewegten Körper als das greifbare und begreifbare Leben zu haben. Dies „Leben“ endet aber immer wieder mit dem Sterben dieses Körpers. Wenn jedoch der logischen Vorbereitung gemäß geschaut wird, dann wird eines Tages ersehen, dass der erkrankte Körper eine wenn auch medicinische Realität, jedoch keine Wahrheit ist. Und hier ist die Pforte zu ’r geistlichen Heilung, wenn nämlich der Patient und der Erkennende hier einander wesentlich begeg’nen.“
„Das wäre wunderbar! Sage doch mehr über die Begeg’nung, Hans!“
„Mir ward einst im Gespräche mit einem Weisen gesagt, mein Nächster sei ein Jeder, der mir begeg’ne. Das dünkte mir sonderlich viel, denn wenn ich in und durch die Mönckebergstraße gehe, dann begeg’nen mir dort Hunderte, unter denen Armleuchter, Betrüger, Diebe, Dummköpfe, Eitele, Geistverleug’ner, Ichsüchtige, Kinderschänder, Lüg’ner, Mörder - was weiß ich? - sind. Diese seien alle mein Nächster? Aber sie begeg’nen mir ja nicht seelisch, sondern kommen mir nur räumlich körperlich entgegen. Das tuen auch Geisterfahrer, wohlgemerkt. Diese sind zweifellos versehrend entgegenkommend, aber nicht jedes Falles im geistlichen Sinne. Und so kamen mir noch mehr Worte in den Sinn, die an der Schwelle zwischen räumlicher und geistlicher Begeg’nung standen. So sagte Marie von Ebner-Eschenbach: „Nur der Denkende erlebt sein Leben; am Gedankenlosen zieht es vorbei.“ Das klingt auf den ersten Horch wohl, eröff’net aber die Frage, was Denken sei, denn gedankenlos ist zumeist kein Mensch. Dessen Gedanken streunen doch dauernd ungesammelt um; aber er ist nicht gedankenlos. Wenn das Wort trefflich seien soll, dann im geistlichen Sinne: „Nur der Geistige lebt mit und in dem Leben mit; am Geistlosen ziehen nur wechselnde bewegte Gestalten ohne Leben vorüber.“ Dem gemäß begeg’net mir nur der Jenige, der mir und dem ich, allso wir beide mit dem Geiste einander entgegenkommen. So, meine Freunde, kam ich in das Wort und dort, in dessen Tiefe, zu ’m Gebete. In der Tiefe des Wortes mag der Gedanke dem Geiste begeg’nen und von Ihm mit Leben getauft werden.“
Nach einer Weile des schweigenden Nachdenkens der Dreie und meines vergeblichen Wartens auf etwas noch Ungesagtes sprach ich: „Jetzt könntest du das fälschlich ersonnene Ich in den Gedankenbau mit einfügen, Hans. Kann dir als Seele dein Nächster als Ich begeg’nen?“
Hans blickte mich groß an, sann etwas in sich hinein und sprach dann: „Oh, das ist gut, mein Lieber! Der Mensch als Ich ist ein Unwesen und begeg’net uns nur räumlich; der Mensch als Seele begeg’net uns geistlich. Das ewige Leben und die unwandelbare Wahrheit sind nicht auf der Ebene des erdeuteten um nicht zu sagen: erlogenen und vergänglichen Iches zu suchen. Ergo vermag das Ich auch nicht zu beten, sondern nur zu bitten, zu betteln, zu flehen oder zu verdammen. Sind wir aber gedanklich jenseits des Iches angelangt und haben auch den dualistischen Ichgrund hinter uns gelassen, mögen wir beten und auch die Unmöglichheit der Krankheit des Menschen erkennen. Aber ich empfehle, mit dem Beten dankbar freudig zu beginnen.“
Darauf fragte Jan: „Du deutest das Gebet allso anders denn die Leute es gemeinhin tuen?“
„Allerdings. Die meisten Menschen deuten ihrer Ichheit gemäß das Gebet als geistlose Textaufsage, die es nicht ist. Und sie deuten diesen aufzusagenden Text wie schon gesagt als Bitte, gar als Flehen, und geraten so zumeist auf den oberflachen Abweg der Bettelei bei ’m großen Wünsch-dir-was, welche ihr unerkannter Wunscherfüllungsgötze ist, den sie mit dem lebenden Gotte verwechseln. Aber das lautere Gebet ist eine Gabe, keine Bitte.“
„Ah, ja? Erkläre uns dies!“
„Nun; ich nannte das Gebet ja ein Lied. Dies können wir einander singen und der Liebe singen, die uns trägt und hält und at’met. Und wenn wir dies tuen, dann bitten wir nicht, sondern wir freuen uns und teilen diese Freude mit der Liebe, deren Odem die Freude ist. Und miteinander zu teilen ist ein Geben, nicht ein Bitten, nicht?“
„So sah ich das noch nie!“, bekannte Jan. „Wie kann denn aber der Mangel Leidende ein Lied der Freude singen? Und nun gar dem, den er als den Grund des Mangels erachtet? Ich meine darmit, wenn jemand schon an Gott als seinen Schöpfer g’laubt, dann muss er IHN auch als den Schöpfer des Mangels erachten. Allso besten Falles freut er sich schon auf sein Sterben, weil dann der elende Mangel endlich enden werde und er in himm’lische Gefilde übersiedeln könne, wie er es g’laubt. Was ist allso mit all den vielen, vielen Tausenden, die auf Erden nicht so reich sind, dass sie vor Freude singen können?“
„Sie beten anders, das trifft zu. Sie flehen und bitten oder klagen. Aber das ist kein richtiges Gebet, doch nur der Versuch eines Solchen. Sie g’lauben an die Wahrheit ihrer Bedürfnisse, deren Zahl ihnen Legion dünkt und erkennen die FÜLLE nicht. Doch, wenn sie sich nur besännen, dann fänden sie, dass sie nur eines einzigen Mangels leiden, nämlich des G’laubes an die Zertrenntheit der Schöpfung. Und ihr Bedürfniss bei diesem G’lauben ist, die Einsheit der SCHÖPFUNG zu erkennen. Mit der Erfüllung dieser Leere endet ihr Leiden.“
„Du weißt aber, dass jemand, der nicht weiß, wie er die Miete bezahlen solle, das so nicht sehen kann, ja?“, fragte Werner beinahe streng.
„Ja, ich weiß dies, mein Lieber. Es ist schlimm. Die Sorge um die tote Materie verstellt uns den Weg zu ’m Geiste hin. Und doch frage ich dich, welches Bedürfniss außer dem nach Seiner LIEBE könnte der Mensch in sich tragen? Die Miete zu beg’leichen, dünkt dem Jenigen wichtiger, der noch an die Wahrheit der Welt g’laubt. Ich will diesen unseren Bruder nicht schmähen und in seiner Not nicht allein lassen, Werner. Aber sein eigentliches, ja: sein einziges Bedürfniss ist nicht das Geld für die Miete, denn auch wenn er das bekäme, fiele ihm als Ich plötzlich ein, dass er auch die Telephonrech’nung noch nicht bezahlt habe. Und sein ichig gedeuteter Sohn (der in Wahrheit nicht sein Sohn, doch sein Bruder ist) bräuchte neue Schuhe, seine Nichte bedürfte zu ’r Communion dringend ein weißes Kleid, und - ach! - sein Wagen müsste zu ’m Winter wieder neue Reifen bekommen. So käme eines zu ’m zweiten und zu ’m dritten und zu ’m hundertsten und auch noch zu ’m tausendsten Ich-Bedürfnisse ohne Endung. Aber all das bringt doch nichts, denn eines Tages wird gestorben. Und was ist dann durch die Erfüllung dieser immerwährenden Leere gewonnen worden? Nichts. Allso sage ich dir und euch, dass für ihn als Seele sein einziges Bedürfniss die LIEBE unseres Vaters war und ist.“
„Das klingt zwar hoch und rein und schön, wirft mir jedoch Fragen auf. Woher weißt du überhaupt dieser Liebe? Ich meine, wann begeg’netest du je einem Menschen, der so liebte? Die Leute reden viel der vermeintlichen Liebe, sie nennen ihre sexuellen Spiele ‚Liebe machen’, sie verwechseln ihr Wertschätzen mit Liebe, ihr dankbares Abhängigseien, aber all Das ist nicht die Liebe, oder?“
„Einverstanden. Nur wenige Menschen kommen zu ’r Liebe. Was sie empfinden, das ist der brennende Begehr, die eitele Wertschätzung, das angst- und begehrbesetztes Abhängigseien, ein Zusammenhörempfinden, oder besten Falles rauschhafte Begehrerfüllungsdankbarheit, aber keine Liebe. Ich begeg’nete nur einigen wenigen Menschen, die liebten. Aber diese quantitativ geringen Begeg’nungen waren so wenig spectaculär, dass ich darvon allein nicht zu zehren vermag. Die große, ewige Liebe aber ist das Jenige, was du empfindend erfahren kannst, wenn du dich versenkst. Und zwar mögest du dich in das Wort der ewigen Liebe gedanklich versenken. So kommst du zu einer ungekannten Ruhe, in der du dir Kraft als anwesend empfindest, die aber keine mechanische Kraft ist, sondern eine beg’lückende.“
„Das klingt wohl. Aber wie kommen wir zu dieser Ruhe, dieser Versenkung? Ich meine, wenn ich mich nun still niedersetze, dann werde ich nur schläf’rig und ich versinke dann nur in den Schlaf.“
„Die große, geistliche Liebe finden wir nicht durch weltlichen Reichtum, sondern durch das Außer-Acht-Lassen all dessen, einerlei, ob die Miete bezahlt worden ist oder nicht. In unseres Vaters SCHÖPFUNG ist keine Miete zu zahlen; diese gilt nur in der von irrenden Menschen gemachten toten Mangelwelt. Im Beten wie im Denken und Sprechen lassen wir die Gewohn-heiten und Dinge und Deutungen der Welt außer Acht, weil wir wissen, dass sie nur zweitrangig sind. Und so wird das Gebet zu ’m Geben. Und der empfängt, wer giebt. Und er empfängt, was er giebt. Liebe. Licht. Sel. Geist. Heil. Frieden.“
„Und sind wir dann noch die Jenigen, die wir jetzt sind?“
„Eine tiefweisende Frage, mein Lieber. Und sie ist schwerlich auf einer Ebene zu beantworten. Auf der Ebene des Iches: nein, sind wir nicht. Auf der Ebene der Seele: ja, sind wir. Das Ich sucht, der Führer zu seien, obwohl es blind ist und nirgend hin führt und nur nirgend hinführen kann. ER aber ist unser einzig wahrer Führer; wenn wir IHN als diesen Führer an-nehmen, dann sind wir nicht länger „ich“, sondern … ja, was sind wir dann?“
„Dann sind wir: ‚mit IHM wir, in der Liebe’. Du, eins mit IHM, und auch wir sind mit darinnen verbunden.“
„Wunderbar!“
Alle saßen versonnen und dachten dem Gehörten nach.
Und Jan schenkte uns Allen nicht nur noch eine Runde ein, sondern sprach zu meinem Entzücken: „Vieles dessen, das ihr sagtet, ist mir noch zu hoch. Aber ich hoffe, ich habe richtig mitbekommen, dass, wenn wir in feinster Freude ob des Seiens leben, wir dann den schönsten Dank mit unserem und für unseren Nächsten beten?“
„Jo, Jan! So ist es. Herrlich gesagt.“
„Dann lasst uns dem getreu leben!“
Und wir Alle gingen nachhin gemeinsamm hinaus zu einem wunderschönen Regenbogen über der Elbe und wandelten sänftlich unter ihm hindurch. Die neue Welt war wunderschön.
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