1. Die Teilung des Meeres
Eines Abends, in unserer vertrauten Runde, erzählte Jan uns mal wieder aus seinen vielen reichhaltigen Erlebnissen eine bemerkenswerte Begebenheit. Wir alle lauschten grundsätzlich gern seinen - wie ich finde - immer etwas überzogenen, jedoch stets tiefer Bewegendes enthaltenden Erzählungen.
„Dieser Tage“, hob er an, „erlebte ich etwas besonders Merkwürdiges, das außer mir und einem Taxifahrer vermutlich keinem Menschen auffiel, das ich jedoch seit dem nicht vergessen habe. Und das will ich Euch, Jungens, nun erzählen, dass es Euch zu denken gebe.
Wie üblich stieg ich vor meinem Anwaltsbureau am Leinpfade in mein telephonisch bestelltes Taxi, um zu 'm Flughafen Fuhlsbüttel zu gelangen. Darzu müsst ihr wissen, dass der Leinpfad eine enge Straße ist, die am Winterhuder Fährhaus in die Hudtwalckerstraße einmündet. Wer von dort aus dem Leinpfade weg will, der kann nur auf die Hudtwalckerstraße nach rechts einbiegen, weil der Gegenverkehr nach links durch die durchgezogene weiße Linie nur verbotener Weise zu erreichen wäre, wenn denn der stets starke Querverkehr das überhaupt zuließe. Die Hudtwalckerstraße kennt ihr ja. Diese in jede Richtung zweispurige Straße zwischen Ludolfstraße, wo früher das Fischrestaurant "Sellmer" war, und Winterhuder Marktplatz; wenn man nach rechts einbiegt, geht ’s Richtung Barmbeker Straße oder hoch zu’m Jahnring. Will man aber zum Flughafen, wie ich immer, dann muss man aus dem Leinpfade unmittelbar nach dem Einbiegen in die Hudtwalckerstraße an der nächsten Ampel nach links in die Bebelallee einbiegen. Der Weg bis zu dieser Ampel ist nur allerhöchstens einhundert Meter lang. Das heißt, dass man die nur zunächst zweispurige Hudtwalckerstraße schnellstmöglich von der rechten über die nur zunächst linke Spur wechseln muss, die dann aber sozusagen zur mitt’leren wird, weil die Linksabbiegespur unmittelbar hinzukommt. So gesehen muss man zwei Spuren überqueren, um überhaupt nach links in die Bebelallee abbiegen zu können. Bei starkem Verkehrsaufkommen auf einer solchen Durchgangs-straße könnt ihr euch denken, wie schwer das ist. Ein unsicherer Fahran-fänger hat keine Chance, das hinzubekommen. Und auch ein gewiefter Taxifahrer muss mit Druck sich über die Bahnen in die linke Abbiegespur drängeln, sondern kommt er nicht durch. So war das schon seit Jahren; ich kannte das nicht anders als so wie gerade erzählt und dachte, so müsse es seien.
Und dieser Tage stieg ich allso vor dem Hause meines Anwaltsbureaus in das Taxi ein und war voller Drang, weil ich mal wieder kurz vor knapp noch ein wichtiges Telephonat führen gemusst hatte und allso schon spät daran war. Ich sagte allso zu dem vielleicht vierzig Jahre alten Taxifahrer, den ich noch nicht kannte, alles, das er wissen musste: „Flughafen, aber dalli! Und zwar müssen wir dar vorn schon nach links in die Bebelallee; wissen Sie das?“
„Jo.“, sagte der Chauffeur, „Weiß ich alles. Wir schaffen das; keine Bange.“
Und dann fährt er mit einer Gemütlichheit los, als wollten wir zum Sonntagspiquenique. Ich reiße mich mit aller Kraft zusammen, weil wir ja noch bei mir auf dem Hofe sind und ich keine Panik auslösen will. Er aber stellt sich zu 'm Rechtseinbiegen an die Ecke des Leinpfades und wartet geradezu unverschämt und in aller Ruhe, dass ihn irgend ein von links kommender Autofahrer vorlässt und wohl gar noch hereinwinkt. Aber der Wagernstrom rauscht lückenlos wie ein vom Sturme gehetztes Meer vorbei und keine Einfahrt ist möglich. So, wie immer dort. Mir in meiner Eile platzt der Kragen und ich ranze den Fahrer lautstark an: „Mann, so wird das nichts! Hier muss man mit Druck und festem Willen sich hinein drängen. Die Leute sind alle rücksichtslos und weichen nur der rohen Gewalt!“
Er aber bleibt gelassen und sagt nur: „Keine Bange. Vertrauen Sie mir nur!“
Ich denke, ich höre nicht richtig. Der hat vielleicht Nerven! Aber einen Unfall will ich auch nicht erdrängen, allso muss ich mich zusammen-nehmen. Gebannt und atemlos blicke ich nach links. Und mit einem Male teilt sich das Meer und ein Fahrer winkt uns herein. Und unmittelbar darauf, dass wir losfahren, winkt uns ein zweiter auf die mitt’lere Spur und ein dritter auf die linke Spur zum Abbiegen. Wie choreographisch ein-studiert passt alles haargenau und gänzlich ohne Gewalt oder Druck. Der Taxifahrer lächelt mir mit einer geradezu wunderbaren Gewissheit zu.
„Mann, so wie Sie will ich auch leben!“, entfuhr es mir in meiner Beeindrucktheit.
Na, Jungens, was sagt Ihr darzu?“
„Ein netter Zufall!“, tönte prompt Werner, der einen im geistlichen Sinne tieferen Zusammenhang gern leug’nende Atheist unter uns.
„Zufall? Das ist so aussagekräftig wie zu sagen: ‚Geschehen’.“, entgeg’nete Hans.
„Wieso? Sind Zufall und Geschehen das Selbe?“
„Beinahe. Das ‚Geschehen’ nennt Alles, das geschieht und wird und an uns passiert, sprich: vorüberzieht; allso alles, was je der Fall ist. Der Zu-Fall aber ist der Fall, der zu einem anderen geschehenen Falle geschehentlich hinzufällt. Allso benennen ‚Geschehen’ und ‚Zufall’ beinahe Selbiges. Das nennt aber nicht mit, dass hinter dem Hinzufallen des Hinzufälligen keinerlei tiefere Bewandtniss oder Bedeutung stecke. Das deuten immer nur die Atheisten dar so hinein; können sie ja auch, aber diese Deutung steckt nicht in dem Worte implicit, sondern in der Atheisten Weltsicht.“
„Ho! Jetzt hast du ’s mir aber gegeben!“
„Jo, und zwar umsonst, mein Lieber!“, lächelte Hans doppeldeutig.
„Vielleicht empfinden die ohne Gott und Geist die Welt als mechanisch Deutenden eine Angst gegenüber einer tieferen oder höheren Bedeutung, und drücken sie deswegen gedanklich vor dem Bewissen weg?“, fragte ich mich im Stillen und unerhört.
„Aber was sagt ihr Anderen denn darzu?“, fing Jan wieder an.
„Ich denke, dass du die Geschichte verfälscht habest.“, sprach Hans bedenklich.
„Wieso? Das war keine Falschaussage und nicht gelogen! Ehrlich nicht! Der Strom der Fahrzeuge teilte sich wie das Rote Meer bei Moses!“
„Ja, das g’laube ich dir gern. Aber ich denke nicht, dass der Taxifahrer es dir „gezeigt“ habe, sondern mit dir gemeinsamm etwas habe geschehen lassen, vielleicht mit ihm als dem Jenigen, der den Vertrauensvorschuss gab. Aber du wirst hinter deinen uns heute genannten harten Wörtern des Zweifels an eine Möglichheit geg’laubt haben, und dieser G’laube wird vielleicht durch darmales minder harte Wörter dem Taxifahrer deutlich geworden seien. In: „Mann, so wird das nichts! Die Leute sind rücksichtslos und weichen nur der rohen Gewalt!“ höre ich eher die Rede eines Mitmenschen, der sich für das Wunder des friedlich miteinander gelingenden Werdens bitter urteilend verschließt. Aber ich kenne dich besser; solch ein Mensch bist du nicht. Im Stillen träumst du des Miteinanders, nicht des Widereinanders.“
„Du bist ein sonderbarer Mensch, Hans: Im selben Atem lobst du mir etwas an und entdeckst mich darmit zug'leich als einen prahlenden oder verfälschenden Erzähler. Wie aber ließen wir denn gemeinsamm etwas geschehen? Ging denn von uns ein Einfluss aus, der so in die mitfahrenden Leute des Verkehres einfloss, dass sie uns einließen?“
„Solcher ‚Einfluss’ klingt mir nach nur poetischer Causalität ohne Wissenschafft. In jenem erzählten Geschehen aber ward etwas Körperloses durch Euch gemeinsamm ergeistet oder belebigt! Erst durch die Gemein-sammheit des Weges oder des Auf-dem-Wege-Seiens der Beiden war dies Wunder des Einfädelns möglich. Die anderen Leute, auch die durch ihr Tuen beteiligten, bemerkten dies ja nicht bewissentlich, sondern warden geführt, zumeist ohne dies zu wissen. Aber siehe: die seltenen Bereit-willigen, die ihren Nächsten, allso einen anderen Verkehrsteilnehmer überhaupt vorzulassen bereit sind, wardn schon vor deiner heimlichen Zustimmung zu dem Geschehen dorthin geführt, auf dass es gelingen mochte!“
„Oho! Wir werden allso geführt? Wir fahren nicht über den Ring II oder nach Winterhude, weil wir durch City Nord hindurch nach Steilshoop oder Barmbek zum Arbeiten oder zum Affenfelsen zum Wohnen fahren wollen, und zwar freiwillig wollen, wohlgemerkt, sondern weil Gott uns dorthin führt, ohne uns zu fragen? Dann bilden wir uns unser freiwilliges Wollen wohl nur ein, ja? Wo bleibt denn dar die Willensfreiheit?“, begehrte nun Werner trotzig auf.
„Die Willensfreiheit wohnt nicht in einer scheinbaren Wahlmöglichheit für Sinnloses unter Sinnlosem oder für das Widersinnige, das wir wertend auch „das Böse“ nennen können, sondern in der Einwilligung in den höheren Sinn des Werdens. Diese Freiheit gedeiht erst im Vertrauen in ein von höherem Willen geführtes Werden des Guten ohne Gegenteil. Wer dies gedanklich noch nicht erschlossen hat, der deutet alles kleiner, enger, geringer und zug'leich größenwahnsinnig, bis am Ende jeder denkvermeidende Dösbartel, jedes Kind, ja, jede Ameise einen vermeintlich eigenen und eben so vermeintlich freien Willen hat. Und in der Folge dieser zurechtgedichteten Freiheit hängt die Schuld wie ein Damoklesschwert über Allen, die sich ja angeblich auch anders hätten entscheiden können.“
„Nicht privat streiten, Jungens! Nur vor Gericht!“, mahnte Jan.“
„Wir streiten ja nicht!“, äußerte Hans ohne Erregung. „Zwei verschiedene Deutungsansätze des Geschehens bewegen uns doch immer Alle, sonst wäre ja auch deine Erzählung des sich teilenden Meeres nicht so interessant für uns gewesen. Und die eine Deutung beginnt bei dem einzelnen Menschen oder überhaupt bei Einzelnem als gedachter Quelle, während die andere Deutung vom Ganzen her als der Quelle ausgeht.“
„Wir setzen allso deine Erzählung nur fort.“, stimmte Werner zu. „Ich vertrete hier die Freiheit und Hans eben die Determiniertheit, die er als wahre Freiheit anpreist wie ein Hafenrundfahrt-Capitän die azurblaue Elbe. Ich finde das spannend; aber Streit im üb’len Sinne ist das nicht.“
Auch ich fand diesen Wortwechsel so, wie Werner sagte: spannend in hohem Maße. Erlebten wir nicht unseren Willen als so frei, wie er es dargestellt hatte? Und doch mochte der Wille so uneingeschränkt frei nicht seien; das bemerkten wir nur nicht. Aber wer vermochte aus freiem Willen etwa sich zu verlieben oder wider die Schwerkraft zu schweben oder des malignen Melanoms operationslos zu gesunden oder neun gelungene Symphonien und 32 gute Claviersonaten zu componieren oder auch nur zu bestimmen, dass ihm Makrelenkuddeln in Feuerquallentunke plötzlich als wohlschmackhaft vorkamen? Alles Wollen war nur in vorgegebenem Rahmen möglich. Und wir sehnten doch insgeheim alle nach einem Werden, in das wir bereitwillig einwilligen möchten, wenn es nämlich ein gutes Werden wäre. Ich war allso gespannt, wie das Gespräch fürderfließen werde.
„Hier bemerken wir zwei Strömungen.“, fuhr Hans fort, „Die erste hat ein Ziel und erhebt den Anspruch, der einzige und eigenständige Weg dorthin zu seien. Die zweite sieht sich zu dem nämlichen selben Ziele hin unterwegs, jedoch mit der Vermutung, alleine (allso aus eigener Kraft, zu der ein Jeder die eigene Quelle sei) komme keiner dorthin.
Mein ältester Bruder hatte Krebs im Endstadium. Er sagte immer, alle Feinbehandelung tauge nichts; ihm helfe nur harte Chemie. Aber die Chemotherapie verlief ohne den gedachten Erfolg. Die Ärzte gaben ihm nur noch kurze Zeit. Er war gänzlich am Ende. Er sprach nur noch wie ein Erloschener und nicht mehr von Kämpfen und Durchhalten. Er hatte in seine Ohnmacht und somit in sein Sterbenwerden eingewilligt. Und dreier Tage später wachte er morgens auf und war: gesund. Die Hauptgeschwulst und auch die Metastasen waren fort. Die Ärzte nannten das eine ‚Spontanheilung’, die sie sich medicinisch nicht zu erklären wussten, obwohl sie das Phänomen aus der Fachliteratur schon kannten.“
„Dass die Patienten aufgeben, ist nach dem ergebnisslosen Kämpfen immer so. Aber deswegen werden sie noch lange nicht Alle geheilt. Allso wohl wieder nur ein netter Zufall.“, gab Werner zu bedenken.
„Ja, wenn sie nur so aufgeben, wie du es nennst, dann spielen sie Lass’-gehen-Capelle und sterben mit dem Körper, an den sie als Wahrheit g’lauben; aufzugeben meint, alles niederzulegen und zu urteilen, dass alles widersinnig oder zumindest sinnlos sei. Einwilligen aber, das ich nannte, ist anders; im Einwilligen wird ja nicht einer Sinnlosigheit oder gar der Widersinnigheit Geltung erteilt, sondern in einen höheren Sinn vertrauensvoll eingeflossen und der in der unsichtbaren Wahrheit schwebenden Körperlosigheit gedanklich zugestimmt.
Wenn nun die Heilung nicht durch Chemie, allso materiell, sondern durch das Vertrauen in den guten Sinn des Werdens geschieht? Denkst du, das Verlieben etwa geschehe, nur weil im limbischen System Phenyläthylamin endokrin ausgeschüttet werde? Dann wäre all deine Liebe eine hormon-materielle, mithin geistlose Sache und das so geliebte Weibchen wäre eben nur bedeutlos zufällig zu deiner Gemahlin geworden. Oder aber wird das Hormon vielleicht ausgeschüttet, nachdem du dich verliebst? Dann wäre die hormonelle Materie nur die Folge deines Verliebens. Auch das ist immerhin denkbar, nicht? Oder wird das Hormon ausgeschüttet, während du dich verliebst? Dann wäre es das geleitende stoffliche Vehiculum deines dennoch geistlichen Liebens ohne einen Anspruch, ein ja doch nur gedachtes Causalitätsverhältniss zu benennen.“
„Na, gut; wenn es das ist, was du meinst, dann bin ich nicht dargegen.“, lenkte Werner ein.
„Siehst du? Das Meer teilt sich wiederum; du hast mich eingelassen, Werner!“
„Ja? Na, ja, wenn du es so schön darlegtest, dann musste ich das ja wohl.“
„Du musstest? Deinem freien Willen zu 'm Trotze? Oder warst du nicht eigentlich schon vor unserem Sprechen bereit und allso willig, mich einzulassen?“ lächelte Hans.
„Dich? Eigentlich wohl, ja.“
„Siehst du? Diese kleine, gute Bereitschafft war die Grundlage der Freiheit deines guten Willens, mich dann tatsächlich einzulassen.“
Werner dachte dem nach, begann zu lächeln und sprach dann: „Na, gut. Es ist so, wie du sagst. Du hast gewonnen.“
„Ich? Nein, du. Und wir. Der Gedanke, den ich dir eröff’nete, mag vielleicht kampflos gesiegt haben, aber gewonnen haben wir Beide.“
Werner schüttelte lächelnd, staunend und dennoch wohlwollend sein Haupt.
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Das kennen wir. Und auch, dass dies so nur in sehr engen Grenzen gilt. Dass sich der Weg ganz von selbst öffnet, wenn man einwilligt in etwas, das schwer oder gar nicht zu fassen ist, davon wird hier berichtet. Und auch davon, wie der Verstand, der nun mal begreifen will, mit solchen Erfahrungen umgeht, zweifelnd, nach Worten und Konzepten suchend und schließlich selbst einwilligend in das Unbegreifliche. Sehr spannend!
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