4. Verursachte Ursachen
„Warum kommst du so spät, Werner?“, fragte Jan den ungewöhnlich spät bei uns eintreffenden Freund. Dieser gab uns die knappe Antwort: „Die Ampel ist schuld.“
„Entschuldige bitte, Werner, aber wie kann denn eine Ampel an etwas schuldig seien?“, hielt Jan grinsend dargegen. „Du weißt, dass sie im iuristischen Sinne nicht als schuldfähig gilt.“
„Ja, das weiß ich zwar, mein Lieber, aber ich kam mit meinem Wagen auf der Tarpenbekstraße nicht fort noch fürder, weil an der Ecke Nedderfeld die Ampel für meine Geradeausspuren auf Rot stehen geblieben war und einfach nicht grün werden wollte. Allso trägt sie die wenn auch nicht iurisprudent zugewiesene Schuld für meine Verspätung. Das ist doch klar.“
„Sachte, sachte, mein Lieber! Das hast du zwar schön gesagt, aber wenn etwas Ursache ist, dann muss es deswegen noch lange nicht schuldig seien!“
„Wenn es die Ursache für etwas Schlechtes st, dann schon!“
„Woher weißt du, dass es schlecht sei, wenn eine Ampel rot zeigt?“, fragte ich und dachte derweil an sein Werten, dessen Producte er gern als „Wahrheit“ ansah. Alles Werten aber ist das Versuchen, ein Unwissen des gegenteilslos Guten durch ein Erfahren des Gut-Bösen zu ersetzen.
„Genau! Und wie kommst du darzu, die Ampel als „erste Sache“ sprich: als „Ur-Sache“ einer Wirkungskette zu setzen, deren Grund wir Beide nicht kennen?“, setzte Jan hinzu.
„Wir wollen aber doch die Kirche im Dorfe lassen, nicht? Ich kann und will die Wirkungskette nicht bis zu Adam und den Troglodythen zurückverfolgen! Sonst kämen wir vom Hundertsten in ’s Tausendste.“
„Aber ich muss doch bitten, Werner! Ein einzelner Factor des Werdens wird aus den Tausenden der Factoren von dir willkürlich als die eine Ur-Sache für ein ebenso willkürlich aus dem großen Geschehen heraus genommenes Teilgeschehen gesetzt; so erweist du deine Causalität als ein gedankliches Wünschelrutengängertum.“
Alle lachten, auch Werner.
„Aber, Freunde, wie ist das denn nun tatsächlich mit der Causalität und der Schuld darinnen?“, fragte Hans, als wir uns beruhigt hatten. „Ihr habt nun schon wieder ein brisantes Thema angeschnitten, das ich durchaus untersuchenswert finde.“
„Och, schon wieder Schuld?“, maulte Werner.
„Du fingst doch eigens darmit an! Aber wie schon gesagt: Sie ist als Gedanke sowieso immer in dir, so wie Angst, Begehr, Ich, Mangel und Tod.“, erinnerte Hans. „Aber das wollt Ihr ja nicht hören geschweige denn wissen.“
„Stimmt! Will sagen: Was du sagst, das stimmt mit meiner Erinnerung überein. Aber als Punct der Causalkette finde ich Schuld nun doch besprechenswert, mein Lieber.“, mischte sich Jan ein. „Darüber wüsste ich nicht zuletzt als Iurist immer gern mehr.“
„Gut, mein Lieber, gut! du wirst schon sehen, was du darvon hast. Schon zu alter Zeit ward der Gedanke der Ursache mit dem der Schuld g’leichgesetzt und der des Urhebers mit dem des Schuldigen. Blicken wir per exemplum in ein hellenisch-deutsches Wörterbuch, finden wir unter ‚aitia’ als deutsche Entsprechung: 1. ‚Ursache’, 2. ‚Grund’, 3. ‚Anlass’, 4. ‚Schuld’, 5. ‚Beschuldigung’, 6. ‚Vorwurf’, 7. ‚Anklage’, 8. ‚(begründete) Beschwerde’. Eine lange, ja: eine bemerkenswert lange Liste, wenn wir bedenken, dass alle acht deutschen Namen eben acht verschiedene Seiende benennen, nämlich: 1. die „erste Sache“, 2. der „Werdensgrund“, 3. der „Ort, wo das Rennen angelassen wird“, 4. das „Soll“, 5. die „Sollzuweisung“, 6. der „Wurf (des beschädigten Besitzstückes) vor den vermeinten Täter“, 7. die „Weheklage an den selben“, 8. das „einen Kläger Beschwerende“. Nun könnten wir denken, die guten, alten Hellenen seien aber oberflächlich gewesen, wenn sie so viele Aspecte und Nuancen mit in ein und dem selben Namen benannten. Das wäre aber weit gefehlt, meine Freunde! Wenn wir ‚Ur-Sache’ im Sinne der „ersten Sache“ zurückübersetzen, dann wird daraus nicht etwa wieder ‚aitia’, sondern ‚Protochrema’, das aber auch als ‚Ur-Ding’ rückübersetzt werden könnte. ‚Werdensgrund’ hingegen wird nicht ‚aitia’, sondern ‚gignarchä’ oder ‚genetiarchä’, zwei Zusammensetzungen, die ich aber nirgends gelesen, sondern aus den Bestandteilen willkürlich zusammengesetzt habe. Das zeigt uns, wie ungenau und vage Übersetzungen sind. Besonders bei Abstracta ist eine Eins-zu-eins-Übersetzung eines Namens nahezu unmöglich, weil die Sprecher anderer Sprachen zug’leich auch anderes zu dem Namen dachten, mithin andere Worte gebrauchten, die aber nicht nur auf der Ebene der Laute und Buchstaben anders sind. Nehmen wir aber nun das zu ‚aitia’ passende Adiectiv ‚aitios’, dann wird uns im Lexikon als deutsche Entsprechungen ‚schuld(ig)’, ‚verantwortlich’ und als Substantivierung der ‚Schuldige’, ‚Urheber’, ‚Täter’ geboten. Suchen wir aber unter ‚schulden’, das im Deutschen ja mit ‚schuldig’ verwandt und formg’leich mit der Substantivierung der ‚Schuld’ im Plural ist, finden wir ‚opheilein’, was uns sagt, dass die alten Hellenen eine Geldschuld gedanklich anders herleiteten denn wir vom „(zu zahlen) Sollenden“. Dies ‚sollen’ aber – bedenkt, dass unsere ‚Schuld’ eigentlich ein ‚Soll’ nennt! – weist nun im Hellenischen keine Verwandtheit mit „opheilein“ oder mit ‚aitios’ oder ‚aitia’ auf, sondern ist ‚chrä’, das mit ‚chreos’ als Entsprechung für ‚(Geld)Schuld’ geboten wird. Die ‚aitia’ allso ist nicht so verwoben, wie die deutsche ‚Ursache’ in ‚ur-‚ = „erst“ oder ‚er-‚ und ‚Sache’; zerlegten wie sie in ihre Bestandteile, bekämen wir zum Einen ‚ai’, das dreifach denkbar ist, nämlich erstens als Entsprechung für ‚ach’, zweitens als Entsprechung für ‚wenn’ oder ‚ob’, drittens als aus a-i zusammengesetzt. Zum Anderen bliebe die Endung der ‚aitia’, allso die ‚tia’ offen. Das Wörtchen ‚tin’ entspricht dem deutschen ‚(warum) denn?’, obwohl ‚war-um’ = ‚um was’ als ‚peri’ und ‚ti’ entsprechend geboten wird. Zu vermuten, dass ‚aitia’ entweder eine Construction aus ‚a’ und ‚itia’ sei, allso aus ‚nicht’ und etwas von mir nicht Gekanntem wie ‚itia’ als Derivat etwa zu ‚itamos’ = ‚unverschämt’ oder aber aus ‚ach’ und ‚warum’ oder aus ‚ach’ und ‚was’ sei, um auf die Ursache im Sinne der Schuld zu kommen, dünkt mir volksetymologisch, allso unzulässig. Kurzum, wir können nicht entdecken, wie vor drei-, vier-, fünftausend Jahren oder noch darvor jemand inhaltlich concret dachte, als er Namen oder Namensteile zu neuen Namen componierte, dass Compostita entstanden, noch als er jemanden als Urheber einer Tat oder Täter, mithin als in unserem Sinne Schuldigen erachtete. Aber dass die G’leichsetzung erfolgte, mögen wir als gewiss annehmen, weil beide Deutungsnuancen des Namens im Lexikon vereint stehen. In manchen Lagen scheint uns dies auch heute noch eindeutig. Ein Augenzeuge vernimmt, wie jemand ein Messer ergreift und in den Bauch eines anderen Sticht, daraufhin dieser zu Boden fällt und stirbt. In der Bewegung des Armes mit dem Messer in der Hand auf einen bewegten Körper zu mit dessen anschließender Stichwunde und Sterben sehen wir so wohl die Ursache des Sterbens als auch die Schuldfrage beantwortet. Oder?“
„Ja. So sehen wir auch heute das.“, bestetigte Jan.
„Aber es ist oberflächlich. Wie kam die zu der Tat erforderliche Kraft in den als „Täter“ erachteten oder nur gedeuteten Menschen hinein? Ist der Täter der Quell der Kraft, die zu der Tat führte? Wir wissen dies nicht. Wir sehen lediglich eine Bewegungsfolge und schließen daraus auf die Causa, den vermeintlichen Grund der Tat. Oder wir sehen eine G’leichzeitigheit oder, weil nach Einstein diese ja nicht möglich ist, eine Selbmaligheit, und deuten uns einen causalen Zusammenhang, etwa, wenn wir jemanden sich über einen Leichnam beugen sehen und wir sofort vermuten, dieser sich beugende Mensch sei der Mörder. Höchst oberflächlich! Werner, du sagtest vorhin, du wollest nicht zu Adam zurück, um die Wirkungskette zurückzuverfolgen. Aber dass eine Wirkungskette sozusagen am Werke sei, war dir klar?“
„Natürlich!“
„Das Natürliche daran ist aber nicht, dass die Natur causal werke und wirke, sondern scheint mir einzig das zu seien, dass wir Alle unserer natürlichen, will sagen: angeborenen Anlage getreu in solchen Wirkungsketten deuten und denken, weil wir nicht wissen, warum, wodurch, woraus oder weswegen etwas geschieht. Wenn jemand fragt, weswegen mein Glas zu Boden fällt, wenn ich es in der Luft loslasse, dann wird ihm geantwortet, wegen der Schwerkraft und der Dünne der Luft. Der Stoff ‚Luft’, dies Gasgemisch in diesem Raume, ist nicht genügend stark oder dicht, die Masse des Glases gegen die Anziehung vom Massecentrum der Erde zu halten, anders als der Tisch, der stark genug ist, sie zu halten, auf dem die Gläser aber auch nur wegen der Schwerkraft stehen, statt etwa in der Luft oberhalb des Tisches zu schweben. Ohne diese Schwerkraft allso bestreiten zu wollen, frage ich aber, wieso diese Antwort uns befriedigt? Ist sie im eigentlichen, nämlich die Unruhe der Frage beruhigenden Sinne eine Antwort? Erfüllt eine solch formale Antwort unsere Suche nach dem inhaltlichen Sinne des großen Ganzen? Nicht im Geringsten. Diese Antwort kann keinen unserem Geiste bedeutsammen Sinn geben, weil sie ohne Geist ist, jedoch ausschließlich stofflich und stoffkraftlich bleibt. Auf diesem Wege ergründen wir nie, wieso ein „Täter“ seinen Nächsten niedersticht oder -stach oder -stechen wird. Uns genügt aber erstaunlicher Weise, dass wir die stoffkraftliche Bewegung vernehmen, um uns vorzugaukeln, wir wüssten, wer der „Täter“ und allso der Schuldige sei. Könnt Ihr mir folgen und wisst, wohin mein Sprechen zielt?“
„Nee, nicht ganz, aber es ist spannend, wie du uns das darlegst, Hans. Mach’ ruhig weiter!“, ermutigte ihn Werner.
„Vielleicht habt ihr gelegentlich beobachtet, wie Kinder geradezu suchen, Täter zu seien, wenn sie das vom Täter vermeintlich Erbrachte als „gut“ werten und vermuten, die Wert gebenden Ältern fänden es eben’ Falles gut. Kleine Kinder wünschen sich etwa, im (Omni)Bus auf den Halteknopf zu drücken, weil sie sich erträumen, sie hätten das erwünschte Anhalten erwirkt. Somit suggerieren sie sich, sie hätten Macht. Eben so aber suchen sie, der „Täter“ nicht gewesen zu seien, wenn sie Strafe fürchten, allso die vermeintlich erwirkte Tat als „nicht gut“ werten. Aber sie prahlen gar mit „böser“ Täterschafft, wenn sie nur g’lauben, dass diese ihre Spielgenossen oder die Ältern beeindrucken werde, denn diese Beeindruckung wiederum wird als etwas „Gutes“ gewertet, weil darhinter wiederum Macht vermutet wird. Die Fragen, die mich darbei so bewegen, sind erstens: Woher wissen die Kinder, wie sie werten sollen? Sie leiten das Gute aus dem Sinne des Wünschens her, ohne zu wissen, dass dieser Sinn kein dem Seien innewohnender, sondern ein diesem oder jenem Seienden von ihnen eigens in der Richtung ihres Wünschens zugedachter Sinn ist, und ohne zu wissen, dass dieser ersonnene Sinn etwas Gutes sei. Das setzen sie einfach, weil kein Tadel folgt, sondern Lob. Und zweitens: Suchen sie womöglich, ihre denkliche Causalität nach der unbewissentlich gegründeten Wertung auszurichten? Weil sie gern Täter des Guten wären, weil sie nämlich gern Macht hätten und darfür zudem gelobt, mithin aufgewertet zu werden wünschen, erdeuten sie sich die Täterschafft, die allso in eins die Möglichheit des Täterseiens überhaupt miterdeutet. Und eben so verleug’nen sie diese erdichtete Täterschafft wieder, wenn ihnen deren Folgen ungenehm sind oder werden.“
„Aber wenn wir das als unter Erwachsenen immer noch giltig erachteten, dann wäre ja die ganze Rechtsprechung Unsinn?“
„Nein, Unsinn ist es nicht, denn es zielt ja zu einem Sinne, auch wenn der kaum zu erreichen ist, aber es ist letztlich ein einziger Wahnsinn. Blicken wir in die Historie! Die schlechten Darseiensbedingungen im späten Mittelalter bewogen die Leute, causal nach den Ursachen für ihr empfundenes Elend zu suchen, und so fanden sie etwa für das plötzliche Kindssterben die Hexen als vermeintliche Ursachen und deuteten denen an, sie hätten einen Schadenszauber erwirkt. Wie dies functioniere oder überhaupt möglich sei, wussten sie nicht; das war ihnen erstaunlicher Weise gänzlich einerlei, aber sie g’laubten felsenfest, dass es functioniere, denn wichtig für sie war zuallererst, einen Schuldigen zu finden, in den hinein sie ihren Zorn ob ihres als verung’lückt gedeuteten Darseiens entladen konnten. So folgten sie der ebenso angeborenen Anlage in ihnen, einen Ausg’leich durch Wiederholung zu erreichen zu versuchen. Dass sie darmit das Unrecht verlängerten, war ihnen nicht klar. Und allso ward die „böse Hexe“ verbrannt. Das belegt aber, dass die Causalität dem deutenden Werten folgt und Rache eine niedere Art des Versuches des Ausg’leiches ist, die solcher Causalität folgt. Seht ihr allso den Causalwahn? Darhinter steckt aber jedes Falles ein erlebter Urmangel, eine Urangst, eine Urschuld, ein Urtod, nämlich ob der zerstörten Ganzheit, des zerstörten Bedeutes, des zerstörten G’lückes des Seiens. Und das - verzeiht mir, bitte! - dumme Ich ist der prüflose und willfährige Träger all dessen.“
„Unser Ich? Wieso?“
„Das Ich ist eine Erfindung, das legte ich euch ja schon dar. Es ist eine Erfindung aus den frühesten, noch sprachlosen Kindertagen. Wir trennten uns aus der Schöpfungsganzheit des Lebens aus und machten uns als „Ich“, g’leich: als die Mitte je unserer Welt und erfanden durch die Heraustrennung aus dem Leben, welche die ewige Schöpfungsganzheit ist, allso den Tod, der in der Schöpfung unmöglich ist und nur als Sterben in der körperlichen Welt geschieht, das jedoch nur den Körper zurücklässt, und mit dem Tode als dem Gedanken, das Sterben sei gänzlich und unheilbar, die Angst darvor, den Mangel als sein vermeintliches Anzeichen, und die Schuld als der Schatten des Unguten, das jemand erwirkt habe. Und dann gärt der Begehr, das sterbliche ungöttliche Ich aufzuwerten, indem es als „Täter“ des vermeintlich Guten dargestellt wird. Im Schatten all dessen aber wird vergessen, dass wir in Wahrheit unsterbliche und unschuldige Seelen ohne Mangel sind.“
„Mann, du redest entweder total irre, oder der Mensch und seine Cultur ist ’s.“, resümierte Jan erschüttert.
„Jo, Jan. Natürlich bin ich der Irre. Aber ich finde darüber hinaus, dass die Täterschafft und die Möglichheit des Täterseiens überhaupt zu erdeuten, nur die eine zu bedenkende Seite der finsteren Medaille der Schulddenke ist. Diese Einsicht allein lässt gänzlich unberücksichtigt, mit welchem Feuer jemand an die Schuld für sein persönliches Ung’lück g’laubt, weil er so innig das G’lück auf dieser Welt suchte, dass es ihn schier um den Verstand bringt, es durch etwas zerstört zu sehen, das er als von einem oder durch einen „Täter“ erwirkte „Tat“ deutet. Und nun sucht er einen Schuldigen, um seine unaushaltbare Pein in diesen hinein zu entladen. Das ist eine sachlich irrige, ja: ungerechte Anwendung des Causaldenkens, aber das hilft ihm in seiner Not nicht und kann so schnell auch nicht von ihm nacherschlossen werden.“, fügte Hans hinzu.
„Du suchst nun wohl Argumente für die Unschuld, Hans.“, sagte ich. „Aber wie hätten wir die unselige Erfindung der Schuld umgehen oder verhindern mögen? Die Frage ist ja ohnehin noch offen, was wir eigentlich seien, dass wir unserer ererbten Anlage getreu uns als je „Ich“ erfinden und mit diesem Ich-Entwurfe auch den Mangel und die Schuld miterfinden? Wir waren ja nie Nicht-Ich, jedes Falles nicht bewissentlich oder mit bewusster Erinnerungsmöge.“
„Das trifft Alles zu, was du sagst. Aber ich versuche, den Zusammenhang logisch und Namen gebend zu eröff’nen, um so einen denkbaren Ausweg aus dem Elende unseres bis her namenlosen Leidens zu finden. Mit den Namen und deren logischer Verbindung wird ein Weg geeb’net. Der Versuch ist vielleicht nicht schon im Anfange hilfreich, aber er schadet doch wohl auch nicht.“
„Das finde auch ich. Wie aber können wir den Menschen aus ihrem Leiden heilen helfen?“, fragte Jan.
„Wieso oder weswegen g’laubst du, dass die leidenden Menschen aus ihrem Leiden geheilt werden müssen? Wegen deines Mitleidens? Das Leiden ist allgemein Anzeigen und Empfinden ihrer - der Leidenden - Weglosigheit im christlichen Sinne. Wenn du nur das Leiden „fortheiltest“ - was nicht möglich ist - dann zögest du ihnen das Anzeichen und Empfinden weg, ohne welche sie ihr eigentliches Problem nicht bemerkten. Ihr Leiden würde erst nachmalig geringer, wenn ihr Denken die Leug’nung des Geistes aufgäbe und den Weg erschlösse. So kommen denn auch die an ihrer Weltdeutung Kranken zu einem „Psychotherapeuten“ alias einem „Seelenhelfer“ - hach, welch hochfahrender Name! - und suchen, ihr Leiden durch diesen Helfer zu verringert zu be-kommen, ohne jedoch ihr Deuten und das dem nachfolgende Denken ändern zu wollen. Ihr Weltdeutungsgefüge ist natürlich gut und trefflich; das ist ja klar!“
„Wieso ihnen dann aber nicht doch lieber noch all das zuvorige Gesagte klar machen, nämlich dass sein Causaldenken insofern falsch und für sie ungut ist, als sie und weil sie darmit der Schuld eine Grundlage einräumen, die weder sie noch den allso Beschuldigten beg’lücke? Das wäre doch ein Ansatz zu ’r Correctur der fehlerhaften Gedanken!“
„Das befreite ihn aber nicht aus seinem G’lauben an die Wahrheit seines Ung’lückes. Und das ist es doch, daran er leidet.“
„Wie könnte jemand ihn aus diesem G’lauben auf die Schnelle befreien? Zu ’m Erwachsen dieses G’laubens lebte er doch schon viele, viele Jahre ohne in dieser Sache zu lernen vor sich hin. Und das kommt darbei heraus!“, sprach Werner.
„So ständest du neben ihm und dächtest, er sei ja selber schuld an seinem Leiden? Er hätte ja früher mit dem Lernen beginnen können, das ihm die Unhaltbarheit solches G’laubens eröff’net hätte, nicht?“
„Nein, gewiss nicht.“, übernahm Jan das Wort. „Aber die Frage bleibt dennoch: Wie könnte jemand einen solchen Menschen trösten? Ich erlebte einst, wie zwei Wagen auf der Sierichstraße ineinander stießen, weil der eine Fahrer, der ein Auswärtiger war, die Umstellzeit der Richtungen verpasst hatte und dachte, er könne noch südwärts fahren. Ich stand an der Ecke Klärchenstraße und sah den Zusammenstoß. Der Fahrer stieg unverletzt aus und hielt sich nur schuldbewissend den Kopf, hingegen die Fahrerin des anderen Wagens ausstieg und entsetzt kreischte: „Mein schöner Wagen!“ und wie irre hin- und hersprang und klagte. Ich versuchte, ihr zu helfen und ging zu ihr. Ich sagte ihr, sie möge doch froh seien, dass sie nicht verletzt worden sei; den Wagen könne man doch reparieren oder ersetzen. „Nein!“, brüllte sie zappelnd, den könne man ihr nicht ersetzen. Tja; wie sollte ich ihr helfen?“
„Sie war im Choque, Jan.“
„Ja, gewiss war sie das. Aber sie konnte nur choquiert werden, weil sie so törig war, an den unermesslichen Wert ihres Wagens zu g’lauben. Der Choquezustand mindert oder relativiert ihren Unverstand nicht, sondern er beweist ihn. Meine Frage aber bleibt offen: Wie soll man solchen Toren helfen können?“
„Zunächst mögen wir ihnen praktisch beistehen, jedoch nicht theoretisch belehren. Aber schon vor dem Leiden ist dennoch zu bemerken, dass die Zerstückelung des Werdensflusses in causale Einheiten doch nicht mit Absicht geschah oder geschieht, sondern in wahlloser Befolgung unserer ererbten Anlage. Diese zeigt uns, dass ein Unwissen des gegenteilslos Guten durch ein Werten des Gut-Bösen ersetzt werden soll. Wir wissen allso nicht nur nicht, was wir sind, dass wir uns als je „Ich“ erfinden müssen, das zu begehren als sinnvoll erachten muss und ein Nicht-Seien des Begehrten als Mangel deuten muss und den vermeintlichen Erwirker eines ebenso vermeintlichen Ung’lückes als schuldig erachten muss, sondern wir wissen auch nicht, was das gegenteilslos Gute ist oder auch nur seien mag oder möchte. Dies beweist allso zug’leich unsere Unkenntniss des unsichtbaren Gottes als des Quelles und sucht Sichtbares oder Vernehmbares als Ersatzquelle zu erdeuten. Hier aber liegt auch das Heilungsangebot, auch wenn wir das eigentlich nicht wissen: Wird ein Gott als erste Ursache erdacht, ist nicht der Weg zu GOTT gefunden worden, sondern nur die Causalität als Denkweg überhöht worden; wird aber ER als der QUELL angenommen, ist alles ohne causale Ursache gut.“
„Was ist denn der Schied zwischen Gott als Quell und Gott als Ursache? Ist das nicht einerlei?“, fragte Jan.
„Wenn du Gott als Ursache denkst, dann trennst du ihn von der Wirkung, weil dies Denken ‚Ursache - Wirkung’ trennend oder getrennt, mithin dualistisch ist. So denkst du immer Erwirker und Erwirktes, welche jedoch zwei Ver- oder Geschiedene, allso Getrennte sind. Und so kommen wir zu ‚Subiect - Obiect’ und ‚innen - außen’ und so fort. Der Quell aber ist dem Flusse nicht abgeschieden. Der Vater und der Sohn sind eins.“
„Das klingt schön!“, lobte Hans. „Aber du sagst letztlich auch nur, dass man den Leidenden auf die Schnelle nicht helfen könne. Oder wie können oder mögen wir ihnen helfen?“
„Geduldig seien und sie austoben lassen. Und dennoch ihnen beistehen, sie an der ihnen zu hohen Hürde nicht allein klimmen lassen.“, schlug Werner vor.
„Schön. Bei ’m nächsten Male werde ich um diese Fahrerin herumtanzen um derweil ausrufen: „Joho! Die Andern sind in Schuld! Nur ich nicht!“ Das brächte sie von ihrem Leiden ab. Oder?“, feixte Hans.
„Das wäre ja Irrsinn! Du bist ein Narr, Hans.“, lachte Jan.
„Jo, Jan. Hans ist schuldig des Irrsinnes. Und zu ’r Strafe muss er uns die nächste Runde ausgeben!“, bestimmte Werner.
„Urteil einstimmig angenommen!“, entschied Jan.
„Aber ich stimmte doch dargegen! Wie kann es allso einstimmig angenommen worden seien?“, protestierte Hans.
„Dies ‚Einstimmig angenommen’ nennt, dass Etwas bei nur einer Gegenstimme angenommen worden ist. Der Rest ist gänzlich irrelevant.“, beharrte Werner grinsend.
„Aber habt Ihr die ichige Ursache für Hansens Irrsinn bedacht?“, wagte ich zu fragen.
„Wir hatten alle Ursache, das bloß und tunlichst zu unterlassen. Wir verlören hier sonst unergiebig unsere costbare Zeit.“, grinste Jan.
Alle schmunzelten und waren froh, im Kreise der Freunde nie ursächlich verklagt zu werden. Trotzdem war dieses Abendes für die Sache nicht gemeinsamm entschieden worden; der G’laube an die Wahrheit des Leidens auf Grunde des G’laubes an die Wahrheit des Leibes und der Welt war zu jener Stunde mehrheitlich noch größer denn die Bereitheit für die Heilung.
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.
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