3. Heidenangst
Eines anderen Males kam Jan verspätet zu uns herein und fragte uns brummig: „Habt Ihr das schon gehört oder gelesen? Ein Knacki erstach seine Gattin im Hafturlaub. Und dieser Mann ist natürlich (obwohl das eigentlich nicht der Natur g'leich seien sollte!) ein Transfinitier, der bei uns schon wegen vorsätzlicher gefäärlicher Körperverletzung einsitzt. Es ist aber auch wirklich trau’rig, dass die erbärmlichsten Ausländer-Clichés so oft und immer wieder so viel Stimmt-Effect aufweisen!“
„Langsamm, langsamm, Jan! Nun setze dich doch erst mal hin, at’me tüchtig durch und erzähle uns dann in aller Ruhe und vom Beginne an!“, lud ihn Werner gutmütig ein.
Und Jan setzte sich, at’mete tief durch fing allso an: „In der NZ stand zu lesen, dass ein siebenundvierzigjähriger Mann aus Gramdrangbrandograd in Transfinitien, der bereits wegen gefährlicher Körperverletzung einsitze, Hafturlaub bekommen habe, um bei der anstehenden Zwangsversteigerung seines Hauses zugegen seien zu können, darbei aber in Streit mit seiner vierzigjährigen Gemahlin geraten sei, die er auf offener Straße vor dem noch ge-meinsammen Hause erstochen habe. Er habe sich nach der Tat widerstandslos von der von Nachbarn zu Hilfe geholten Polizei festnehmen lassen. Die Frau und er hinterließen acht Kinder zwischen drei und dreiundzwanzig, die nun mehrheitlich in ’s Heim kämen, weil er aus dem Knast sich nicht um sie kümmern könne. Die Gemahlin habe wohl beabsichtigt, ihn und die Kinder eines anderen Mannes halber zu verlassen, sodass er in Zorn geraten sei und die Controlle verloren habe. Aber das ist noch nicht Alles, denn er habe ja schon wegen einer vor zwei Jahren begangenen gefährlichen Körperverletzung inhaftiert gesessen. Darmales habe er eine Eisenstange genommen und eben’ Falles auf offener Straße so lange auf die Freundin seines ältesten Sohnes eingehauen, bis Beamte der Polizei ihn überwältigt hätten. Angeklagt worden sei er vor Gericht wegen versuchten Mordes, was aber nur als gefährliche Körperverletzung durchgekommen sei, weil das Gericht sich nicht habe vorstellen können, dass er auf offener Straße jemanden habe töten wollen. Das können sie im jetzt anstehenden Process jedes Falles nicht wieder zu behaupten versuchen.“
Wir alle saßen zunächst unter der Last einer solchen Erzählung bedrückt und ich fragte mich, was der sonst so auf Ausgleich und das Positive am Menschen bedachte Jan uns eigentlich zu sagen bezweckte? Gedachte er uns zu schockieren? Wohl kaum. Suchte er, bei uns eine Gesinnung pauschal wider die „Ausländer“ zu erzeugen? Gewiss nicht. Das wäre auch aussichtslos gewesen, wie er üb’rigens genau wusste. Und Werner nahm mir die allso offene Frage ab, indem er seinerseits äußerte: „Seit wann hast du denn etwas gegen Ausländer? Das wusste ich ja noch gar nicht!“
„Ach, Werner! Natürlich nicht allgemein oder pauschal. Du müsstest mich doch wohl besser kennen. Verbrecher und Delinquenten sind in allen Nationen zu verzeich’nen, aber eben so wohl Gutmenschen. Ich habe nichts dargegen, wenn oder dass überführte Straftäter aliener Nationen abgeschoben werden. Aber leider bringt das Abschieben eben so wenig wie das so oft geforderte Wegsperren, einerlei welcher Volksanteiligheit die Verbrecher nun gerade sind.“
„Na, dann bin ich ja einiger Maßen beruhigt. Aber wozu denn erzähltest du uns diese böse, ja: widerwärtige Geschichte, Jan?“
„Mich berührte beim Lesen dieser Sache neben den üblichen iuristischen Redewendungen der Gedanke der Angst. Während des Lesens ward mir plötzlich klar, dass Angst noch hinter allen Motiven steckt und wirkt, aber bei den Tätern wie bei den Opfern und den Iuristen. Wenn jemand „Wegsperren der Intensivtäter!“ fordert, wie wir dies zuletzt oftmales hörten, dann steckt zuerst nicht Bosheit, sondern eine im Untergrunde unerschlossene Angst darhinter. Aber eben so war eine zu verdrängen versuchte Angst der Hintergrund der Erstechung, die ich Euch erzählte. Der Täter war in Angst um seine Kinder und um sein Weltverständniss. Aber weder der Täter noch die Forderer des Weg-sperrens bekennen, dass Angst das Movens zu ihren Taten oder Äußerungen war oder ist, sondern kleben an den Obiecten der Tat oder des Forderns. Und so kommen sie nicht zusammen, obwohl sie an der einen und selben Krankheit leiden, nämlich an der Angst.“
„Oh, Jan! Das ist aber ein wunderschön tief reichendes Wort! Du rührst an der Angst, von der tatsächlich die meisten Menschen nur durch Weglaufen – auch thematisch, wenn sie die Angst auf die sie ihnen eröff’nenden Dinge, Menschen oder Umstände ab-zuschieben versuchen, indem sie diese als obiectiv bedrohlich darzustellen suchen – geheilt zu werden versuchen.“, sagte Hans. „Leider heilt Weglaufen nicht.“
„Inwiefern ist es denn ein Weglaufen vor der Angst, wenn jemand den Grund seiner Angst, oder du sagtest bemerkenswerter Weise: den Eröff’ner seiner Angst thematisch so handelt, als dass dieser Eröff’ner obiectiv bedrohlich sei? Das will mir auf Anhieb nicht einleuchten. Ist ein gefährlicher Täter denn keine Bedrohung? Ich meine, das Bedrohliche zu nennen ist doch gerade eine Thematisierung des Bedrohlichen und kein Weglaufen darvor, oder? Legst du uns deine Gedanken mal aus?“, bat Jan.
„Gern. Ich meine, dass durch das Darstellen eines Dinges, Menschen, Umstandes als obiectiv bedrohlich so getan wird, als seien diese der Grund der Angst, und dieser somit nicht in den Angstempfindenden zu suchen. Allso lenken sie von sich als dem Träger des Grundes der Angst, nicht des Eröff’ners, ab. So laufen sie allso bildlich gesprochen vor dem eigentlichen Grunde der Angst weg und suchen, die letztlich austauschbaren Eröff’ner der Angst statt als Anlass als deren Grund dar zu stellen, der sie nicht sind. Und durch diese Projection nach außen bleiben sie in ihrer Angst ungeheilt. Das wäre wie der Versuch, einen Krankheitserreger auszurotten, nur um sich nicht impfen lassen zu müssen. Aber das eigentliche Problem ist die Ansteckbarheit des Menschen und nicht der an sich unwirksamme Erreger.“
„Gut. Danke.“
„Wieso gut?“, widersprach Werner. „Denkt Ihr Dreie denn wirklich, der Mörder seiner Gemahlin und der Mutter seiner acht Kinder sei eigentlich kein Mensch üb’ler Gesinnung und habe nur gewisser Maßen aus Versehen, weil gerade zufällig eines Males in Angst, und nur ausnahmsweise mit dem Messer gehandelt und zugestochen? Der macht das immer so! Das bewies er uns schon durch seine zuvorige Tat, für die er schon verurteilt worden war.“
„Und wenn? Dann ist er eben nicht zufällig immer in der einen und selben Angst, die durch stets die g'leichen oder zumindest vergleichbaren Auslöser eröff’net wird. Und in der Angst wird er so, wie ein kleines Kind, von Abwehrtrieben und Fluchttrieben bewegt, und wenn der Abwehrtrieb von ihm erhört und eine Waffe zu greifen gefunden wird, dann geschieht das so, wie es uns von Jan erzählt worden ist.“
„Und was tut so ein erwachsenes Kind gegen die Angst? Nichts! Und schuldig sind nach seinem Dünkel immer die Anderen, und zwar bestens die Jenigen, die er niedersticht! Die haben das dann eben verdient, nicht? Das ist doch keine Entschuldigung des Täters, sondern dessen eigengerechte Schuldzuweisung zu den Opfern! Der soll erst mal seinerseits etwas gegen diese seine Angst der Unterbelichteten unternehmen! Es ist ja doch nie nur die Angst, die solch ein krankes Kind von mitt’ler Weile siebenundvierzig Jahren immer noch zu grausigen Gewalttaten bewegt, sondern offensichtlich auch massive Dummheit! Und gegen belehrungsresistente Dummheit hilft nur Strafe! Solche Dummheit ist unheilbar und gehört bestraft. So ist das, sage ich Euch!“
„Jawoll, Herr Obersturmbannführer! Auch wir plädieren für die Todesstrafe!“, caricierte Jan strammen Tones den gewissenhaft gewissenlosen Cadavergehorsamm der Schergen.
„Oha!“, entfuhr es Werner. „War ich so schlimm?“
Wir lächelten. „Klang beinahe so. Aber nun ist’s ja wieder gut.“
„Noch nicht gänzlich, Freunde.“, bekundete Hans. „Ich finde, dass Werner ja vielleicht etwas stark, aber nicht gänzlich unrichtig sprach. Wir können doch mit unserer Einsicht in die Angst als Beweggrund solcher Täter wie auch der Forderer, jene wegzusperren oder gar zu töten, die Sache nicht auf sich beruhen lassen, denn erstens bleibt der Angstkranke ungeheilt und zweitens bleiben die sich vor ihm Ängstenden eben so ungeheilt, einerlei, ob solche vermeintlichen „Täter“ nun weggesperrt werden oder in Sicherungsverwahrung kommen. Die Findung der Angst als erstem Movens soll uns den Stachel nehmen, den Täter und dessen Verurteiler als nur gefährlich oder böse zu verurteilen. Aber die Nicht-Verurteilung ist das unumgänglich wichtige erste Wort in dieser Sache, nicht jedoch das eben so wichtige letzte.“
Und er legte eine Pause ein, um die Spannung zu erhöhen. Dies gelang ihm, bis endlich Jan erwartungsvoll fragte: „Und welches ist das letzte Wort?“
„Vergebung. Dieser Name nennt mehr denn eine nur sprachliche Verzeihung, eine Fort-Zeihung der Schuld. Wir mögen zug'leich eine Löschung des Feuers der Angst hinzudenken, dann kommen wir zu der Vergebung. Diese ist allso die doppelte Fort-Gebung der Schuld wie der Angst. Die Angst des Gewalttäters aber vermag ich nicht zu löschen, hingegen zu unserer Heilung aus der Angst hinaus ein Wort zu sagen. Zunächst muss der Zusammenhang zwischen Angst und Schuld offenbar werden. Ist er das?“
Und er blickte forschenden Auges in die traute Runde. Er sah an uns wohl mehr Fragezeichen denn nickendes Wissen, daraufhin er fortfuhr: „Wenn vergeben werden soll, dann muss über die Schuld im iuristischen Sinne gedanklich hinausgegangen werden. Der Iurist stellt Schuld dann fest, wenn ein Gesetz gebrochen ward und dem Täter dieses Brechens volle Schuldfähigheit attestiert oder anders gesagt die freiwillige Möglichheit des Nicht-Brechens unterstellt wird. An dieser Feststellung der Schuld muss der Iurist aber nicht emotional beteiligt seien; sie geschieht sachlich an den Facten und den auf sie anzuwendenden Paragraphen des Gesetzestextes. „Verbrecher ist, wer ein Verbrechen begeht. Verbrechen ist der Verbruch bestehender Gesetze.“ So leidenschafftslos, wie im Lexikon. Oft werden Gesetzesbrüche vor Gerichte besprochen, die menschlich gesehen uninteressant sind, ja: überhaupt nicht als Verbrechen angesehen werden. Dieser Tage ward jemand festgenommen, der nachweislich ohne niedere Beweggründe Euthanasie geleistet hatte. Die Anklage nennt das „Tötung auf Verlangen“, was per legem eine strafbare Hand’lung ist. Das impliciert, dass der „Täter“, obgleich er nicht aus schnöden Motiven wie etwa Habsucht oder Rache, sondern aus Menschenfreundlichheit handelte, dennoch für ein so genanntes Tötungsdelict verurteilt werden wird, ohne dass wir ihn deswegen als schlechten oder bösen Menschen erachten müssen. Vielleicht findet gar auch der Vorsitzende des Processes diesen dem Gesetze nach Schuldigen eigentlich im menschlichen Sinne nicht schuldig, und der von ihm sachlich Verurteilte genießt womöglich die Sympathie des Volkes und die Hochachtung der Befürworter der Euthanasie. Gut! Wenn wir nun aber menschlich über einen Gesetzesbruch sprechen, der die Gemüter erhitzt, dann kommt emotionale Färbung des Falles hinzu. Mit einem Male ist der Verbrecher nicht nur jemand, der eben irgend ein oder welche Gesetze verbrochen hat, sondern er ist ein Scheusal, das man wegsperren oder gar töten solle. Was ist allso hinzugekommen? Die Angst der Betroffenen. Der Raser überfährt ja vielleicht auch meinen besten Freund, der Vergewaltiger nimmt sich als nächste vielleicht meine Tochter, der Dieb bestiehlt vielleicht auch mich, und vor alle Dem sind wir in Angst, besonders dann, wenn der Täter vorsätzlich handelte und keine Reue zeigt. Und aus dieser Angst weisen wir Schuld nicht sachlich iuristisch zu, sondern gewisser Maßen emotional vergiftet. Wollen wir diese Art der Schuld vergeben, müssen wir zuvor unsere Angst mitvergeben.“
„Leuchtet ein, Hans. Aber diese Angst in uns ist doch natürlich und nicht illegitim oder gar krank. Niemand kann von uns verlangen, dass wir uns sorglos überfahren oder unsere Töchter vergewaltigen lassen. Was sollen wir dar allso vergeben?“
„Zu verlangen ist das gewiss nicht; ich stimme dir zu, Werner. Aber so meinte ich das auch nicht. Dennoch erachte ich die Angst als eine Art Krankheit. Und so sind wir hier an der Schwelle zu der Frage, was wir in Wahrheit sind?“
Die Frage riss plötzlich die Coulissen um uns fort, sodass die Weite der Schöpfung offen war, so empfand ich. So, wie wir Hans kannten, ward gerade eine theoretische Enthebelung unserer Welt vorbereitet. Die andern Beiden aber waren noch arglos und dachten, sie wüssten, was der Mensch sei.
„Fragst du das ernstlich, Hans? Was sind wir? Was willst du hören? Wir sind Einwohner dieser Stadt, Männer, Menschen, deutsche Staatsbürger, deine Freunde!“
„Jo, Werner. Aber sagt dir das, wieso du Angst als legitim und nicht als krank erachtest?“
„Ach, so, auf der Ebene meinst du das. Na, sage du es uns!“
Hans blickte mir in ’s Gesicht, sah in meinen Augen geneigte Zustimmung und lächelte. Dann sprach er: „Wir sind die Erfinder unseres Iches und mit diesem auch des Todes, des Mangels, der Angst und der Schuld.“
Starker Tobak. Wir schwiegen und warteten der Wörter, die noch kämen. Hans fuhr fort: „Wir denken uns als Ich. Jeder empfindet sich als „ich“ und denkt, er sei „ich“ und er vermeint, dies sei die bewiesenste Wahrheit, und doch weiß er sie nicht und wissen wir diese alle nicht. Wir haben Anfangs, nach unserer Gezeugtwerdung, nichts gelernt und beginnen wisslos zu vernehmen und zu deuten. Und zugleich g’lauben wir unseren Deutungen, als seien sie Offenbarungen der Wahrheit. Sehen wir uns dies en détail an. Der Muslim g’laubt voller Zweifellosigheit, der Islam sei die einzig wahre Religion, derweil der Hindu mit der sonderbarer Weise selben Zweifellosigheit g’laubt, der Hinduismus sei der einzig wahre Weltdeutungsg’laube. Und der Katholik g’laubt nicht nur, die beiden Anderen seien verblendete Narren oder gar irre Blasphemiker, sondern zudem, seine angeblich heilige katholische Kirche sei die einzig wahre und echte Religionsge-meinschafft überhaupt. Aber fragen wir einen Mormonen, dann wird er uns bekennen, dass allein seine Kirche die einzig wahre sei. Aber all Diese irrten doch, schwört uns der Zeuge Jehovas, denn allein seine Kirche sei die einzig wahre! Fragen wir diese G’läubigen nach Plausibilisierendem, hören wir stets den Verweis auf ein angeblich heiliges Buch, darinnen die Wahrheit zu lesen stehe, darauf ihre Gemeinde, Kirche, was auch immer sich stütze. Fragen wir nun aber einen Atheisten, der solche Bücher verlacht, bekommen wir zu hören, dass die Religionen allesammt Unsinn seien, weil Gott nicht existiere und genau dies die eigentliche Wahrheit sei. Woher er dies nun wiederum wisse, sagt auch er nicht; er verweist auf angebliche Rationalität, eine eingeengt geistlos gedeutete Wissenschafft und seine fünf Sinne. Diese vermitteln zwar keinen Gott, beweisen aber dardurch nicht dessen Non-Existenz, wie sie ja auch keinen Geist, keine Freundschafft, keinen Urknall, keine Liebe, keine Zukunft, kein Erbarmen, kein Vertrauen, keine Kraft, etc. beweisen, an deren Seien wir dennoch g’lauben. Der Atheist g’laubt an die Non-Existenz Gottes, so, wie ein Deist oder Theist an dessen Existenz. Aber wissen tuen dies Beide auf der Ebene nicht. Trotzdem sind alle mit jeweils ihrem G’lauben stets zweifellos auf der richtigen Seite. Und so auch wir, wenn wir glauben, wir seien je „ich“. Wie kommen die Menschen zu ihren G’laubensinhalten? Es wird ihnen von Menschen, denen sie glauben, so gepredigt; immer und immer wieder. Und wir vernehmen über unseren Gefühlssinn unseren bewegten Körper, deuten den als „Ich“, und vernehmen über den Gesichts- und den Gehörssinn, dass noch mehr bewegte Körper uns scheinbar „außen“ umgeben. Daraus schließen wir, dass die Anderen diese bewegten Körper seien, und zwar jeder einer für sich. Und jeder dieser bewegten Körper denkt sich als „ich“ und im räumlichen Sinne als „innen“. Darzu wird dualistisch das Gegenüber „außen“ und „die Anderen“ erdacht. Das ist schon unsere ganze Wissenschafft über uns. Ist das nicht viel zu wenig, um es ‚Wissen’ nennen zu können? Wir wissen nicht, dass die Denkung „Ich“ das Ergebniss einer deutenden Wertung ist, das wir mit dem in unserer Gesellschafft üblichen Namen benennen. Die Wertung grenzt das vermeintlich Wertvolle gegen das ver-meintlich minder Wertvolle ab; so entstehen „ich“ und „innen“ und „Subiect“ auf der einen und „ihr“ und „außen“ und „Obiect“ auf der anderen Seite. Woher wissen wir aber, dass wir in Wahrheit nicht alle Teile eines höheren Wesens sind, das wir nicht sehen oder fühlen können?“
„Wir wissen dies nicht. Aber das will ich auch gar nicht wissen. Ich halte mich an das, was ich weiß.“, bekannte Werner.
„Allso an Nichts?“, bohrte Hans mit theat’ralisch skeptisch verzogenem Munde und zog derweil eine Augenbraue nach oben.
„Wieso? Was du sagst, ist doch auch bloß Theorie!“
„Mag seien. Aber eine, um deren Erhalt ich nicht ängste. Du aber bist in steter Angst um deine. Und wenn ich nun sage, dass ich durch denkendes Beten und betendes Denken der Angst auf den Grund gekommen bin, dann g’laubt mir das vermutlich niemand.“
„G’lauben täten wir das vermutlich recht gern, wenn wir nur erst wüssten, was du darmit meinst, lieber Hans.“
„Das Denken verbleibt zunächst in den erlernten Bahnen und ist so nur ein Wiederholen des bereits Gedachten in dessen Gedächtniss. Dann bekommt das Denken Fragen, die nur begrenzt aus dem Erlernten und bereits Gedachten zu beantworten sind. Manches wird aus der Erfahrung erdenklich, Anderes nur aus der Versenkung in die Tiefe der Worte hinein. Dort aber etwas zu finden, ist, wenn es über das bis lang Erfahrene und Gefunden hinausreicht, entweder poetisch ersonnen, dünkelhaft ersponnen oder aber vom Geiste gegeben. So, vom Geiste her, ist es mir geschehen. Die Angst empfand ich zuvor oft und innig und versuchte vergeblich, ihr zu entkommen, sei es durch Flucht, sei es durch Verdrängung, sei es durch Angriff. Dann aber ging ich ohne Abwehr oder Zorn durch sie hindurch und fand ihren Grund, der kein wahrer Grund war. Dieser Grund ist das Werten, mein deutendes Werten am Maßstabe des verletzlichen, ohn-mächtigen Körpers, der als Träger des Iches leben soll. So geschieht in dem Grunde, der mich als „Ich“ erfunden hat, ein Deuten, das zu einer Welt gefügt wird, deren Mitte das erfundene Ich einnimmt, das sich vor der Wahrheit ängstet, die Vergebung, sprich: Niederlegung des Iches fordert. Auch all die Menschen, die in ihrem Weltdeutungsgefüge keinen Platz der Vergebung einräumen, weil sie auch keiner Wahrheit jenseits ihrer Welt ein Wort gewähren, sind in steter Angst und suchen darfür „Gründe“ außerhalb ihres Deutens. Sie sind in der Heiden Angst. Und all ihr Zorn wider die Bösen, die Verbrecher und Ungeheuer, ist diese Angst, die sich mit der Kappe der vermeintlich gerechten Empörung verkappt und gegen Bemerktwerdung zu verbergen sucht, um nur ja nicht in ihrem ungeheilten Denken den Fehler zu finden und dann der Heilung hingeben zu müssen, die ihrem Hochmute nicht gefällt.“
„Oh, willst du sagen, ich sei hochmütig? Nein, das willst du nicht. Und ich zürne doch auch nicht, lieber Hans! Und ich bin doch nun auch nicht gerade in steter Angst. Jetzt in diesem Moment bin ich ohne Angst.“
„Du empfindest sie nicht, weil sie dir als dem Bewissenden gerade nicht eröff’net worden ist oder wird. Aber sie lauert nur darauf, dich zu packen und zu schütteln und sich in Zorn zu verwandeln. Sollen wir das mal versuchen?“
Und Werner blickte in Hansens Augen, ob er das wohl ernst meine, und sah zwar um die Augen eine ebenmütig freundliche Miene, wollte aber angesichts der unberechenbar bodenlosen Tiefe in diesen Augen lieber nichts vom Zaune brechen.
„Nee, danke, besser nicht. Nachher gelingt dir das noch. Jan, schenke mir doch lieber noch mal ein, bitte!“
„Siehst du? So sicher bist du allso nicht, dass die Angst nicht doch stets in dir sei. Und so stets ist auch die Schuld in dir. Sie sind wie Vulcane, die immer wieder ausbrechen. Wer wollte ernstlich sagen, ein Vulcan sei nur dann dar, wenn er gerade ausbreche? Er ist immer dar, auch wenn er lange, lange nicht ausbricht. Aber er wird es. Irgend wann.“
„Jo, Hans. Mag seien. Dann trinken wir lieber schnell vorher noch einen!“
„Jo, Werner.“, mischte ich mich ein. „Und denn könnten wir vielleicht darbei bedenken, was denn von uns üb’rig bliebe, wenn wir das Ich, die Angst und die Schuld abzögen? Ich meine darmit, dass es doch nicht so einfach ist, dass wir all unsere Denkfehler subtrahierten und wir dann als vergeben Habende in wahrer Seelenreinheit üb’rig wären. Diese Vergebung, Hans, ist doch nicht einfach eine wenn auch scharf- und feinsinnig entworfene Theorie. Wie innig g’lauben wir doch an die wenn auch nur vermeintliche Wahrheit unserer von „innen“ bewegten Körper! Und wir erfanden doch uns als „Ich“ nicht wissentlich. Wenn allso eine Erfindung vorliegt, wer war denn ihr Erfinder? Waren wir das? Aber „wir“ im Sinne der „Iche“ waren doch noch nicht erfunden worden, sondern warden gerade erfunden! Vom wem allso? Wie sollen wir denn aber den auf solch unklarer Grundlage erwachsenen Glauben an uns als „ich“ und bewegten Körper denn so mal eben vergeben?“
„Na, ja, wenn es klang, als meinte ich es so einfach, dann bitte ich Euch um Entschuldigung. Ich legte allerdings nur die theoretische Seite der Sache des zu Vergebenden auf. Aber bevor wir vergeben können, müssen wir doch zuerst wissen, was wir vergeben sollen, nicht?“
„Gut, aber das Wie des Vergeben-Könnens finde ich mindestens eben so wichtig, Hans.“
„Ja, einverstanden. Und wie können wir allso vergeben? Weißt du es?“
„Wir als je „Ich“ können nicht vergeben. Wir können, wie du es vorhin so schön differenziertest, ver-zeihen, allso Anklage fort-zeihen, und immer wieder ein Auge zudrücken, aber ganze Vergebung ist aus unserem Denken allein nicht möglich. Und wir als von uns erfundene Iche können das noch weniger. Nur der vor-nehme Hieronymus Karl Friedrich Freiherr von Münchhausen vermochte sich aus eigener Kraft aus dem Sumpfe zu ziehen. Wir hingegen vermögen einzig mit unserem Nächsten gemeinsamm aus der Schwerkraft der Welt nach oben hinausgelangen. Mir sagte einst der einzige Christ, den ich kenne, und der erstaunlich liebevoll war und ist, ich möge die Unschuld meines Nächsten schauen und ich erkennte so meine. Aber die Unschuld meines Nächsten könne ich einzig dann schauen, wenn ich nicht alleine auf ihn blickte und sähe, sondern in der Hingabe oder Hingegebenheit an die höhere Liebe schaute, die alles seg’ne und nichts verurteile. Ihm, meinem Nächsten, solle ich einen Platz in unsrem großen gemeinsammen Werden mit mir gewähren, das trotz all unserer Fehler und Unbotmäßigheiten von der Liebe fehlerlos und fehllos getragen werde.“
„Der einzige Christ, den du kennst? Lebst du denn als Eremit? Diese Christen weilen aber doch zu Tausenden all über all hier!“, staunte Werner.
„Christen? Oho! Du meinst wohl ‚Katholiken’ oder ‚Evangelen’ oder ‚Orthodoxe’ oder ‚Zeugen Jehovas’ oder ‚Mormonen’ oder ‚Baptisten’ oder ‚Neu-Apostolen’ oder ‚Adventisten’ oder eine sonstige Freikirchanhängerschar? Man kann ein guter Protestant oder ein guter Kathole seien, ohne deswegen zwingend ein Christ zu seien. Du musst dich nur taufen lassen, sonntags in die Kirche gehen und dort alle angesagten Texte kritiklos mit herunterleiern, fein Kirchensteuer zahlen, dich kirchlich vermählen lassen, deine lieben Kinder taufen lassen und keine weltlichen Verbrechen be-gehen, dann bist du schon ein guter Katholik oder Evangele, aber bist du dann schon jemand, der den Christus erkennt und allso weiß, was Wahrheit, Vergebung und Unschuld sind? Noch lange nicht! Die Kirchen sind gefüllt mit Leuten, die keine Christen sind, obwohl sie das nicht wissen und im Gegenteile g’lauben, sie seien welche. Hingegen sind die Vergebung und die daraus erwachsene Unschuld von ihnen nicht erschlossen worden. Wir aber möchten bei uns darmit beginnen, wenn wir all dies einsähen und die Vergebung in Seinen Willen einwilligend wollten.“
„So habe ich das noch nicht gesehen!“, bekannte Werner.
„Ich finde das aber gut. Das ist groß und schön und wahr. Lasst uns darauf anstoßen, Freunde!“, sprach Hans in ungeheuchelter Begeistung und hob sein Glas.
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.
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