2. Was Faust suchte und nicht fand
„Jo!“, seufzte Werner eines Abendes bitter und galgenhumorig und leitete so ein Gespräch ein, das bis tief in die Wunde unseres an die Welt gehängten Herzens reichte. „Die Leute wünschen alle nur mein Bestes: mein Geld.“
Wir, allso Hans, Jan und ich, schmunzelten zunächst über das eigentlich dennoch eher bittere Wortspiel, doch fragte Hans nach einer Weile besinnlich sozusagen in die Tiefe hinein: „Meinst du das im Ernst? Dein Geld ist dein Bestes?“
„Jo, das meine ich im Ernst.“, knurrte Werner ungewöhnlich hart. „Und Alle haben ’s nur darauf abgesehen, dies zu ergattern!“
„Die uned’len Metallplättchen und die bunt bedruckten Sonderpapierlappen für das übergroße, ja: das irre Werteaustauschverrech’nungsgespinst der Welt siehst du als ‚dein Bestes’ an, das allso besser denn dein gutes Herz und deine Freundestreue zu uns ist?“
„Ach, Hans, ich bitte dich! Das ist doch auf einer anderen Ebene!“
„Das freut mich!“, bekannte Hans aufrichtigen Tones. „Das Beste ist allso auf mindestens zwei Ebenen, jeweils dort jedoch etwas Anderes, allso im Gesammten zweierlei.“
Erst murrte Werner leise und mit Kopfschütteln: „Hei tüdelt sik jümmers wat her…“ Aber dann sprach er lauter und deutlicher: „Sage, was du willst. Das Beste für mein Fortbestehen, ja: für mein G’lück in der harten, weiten und leider erbarmungslosen Welt ist nun mal mein Geld. Ohne Geld bist du unversorgt und ganz unten. Und das lassen dich die Leute übelst merken. Auch dann, wenn du gute Freunde hast. Auch diese können dich nicht lebenslänglich durchfüttern!“
„Sehet die Vögel am Himmel! Sie sähen nicht, sie ernten nicht, und dennoch nährt sie unser himm’lischer Vater. Schauet die Lilien! Sie spinnen nicht, sie weben nicht, und dennoch sind sie prächtiger gewandet denn König Schelomo in dessem Glanze!“, citierte ich freilich aus Mt 6,26-29, ohne religiösen Eifer zwar, doch nicht ohne Neugierde, was der Freund darauf sagen werde.
„Diese ollen Bibelwörter kannst du dir sparen!“, winkte Werner verdrossen ab. „Das klingt ja so schön, aber die Wahrheit sieht erheblich minder blauäugig aus. Sage du den Spruch doch mal meinem Vermieter, wenn ich das Geld für die Miete nicht zusammen habe! Und meinem Grünhöker, dem Apotheker, dem Hansebäcker, und wer sie Alle seien mögen. Wenn die Alle mit sich reden lassen, dann will auch ich mich nicht lumpen lassen. Aber bis darhin sehe ich nicht ein, was mir diese Denke nützen solle!“
„Jo, Werner, immer erst die Anderen.“, stimmte Jan ironisch zu. „Das schließt das Risico des Vorkosters aus. Das leuchtet auch unmittelbar ein, führt aber leider zu nichts, wenn Alle so denken. Und genau das tuen die meisten Leute.“
„Genau das tuen sie; das sagte ich doch. Und warum soll dann ausgerech’net ich der Erste seien, der es anders tut und hält?“
„Dies Wort ‚ausgerech’net ich’ verrät Egoitis und ist höchst sonderbar verwendet, denn in dieser Sache, die wir besprechen, ist nicht gerech’net worden, sodass auch nicht Etwas darbei ausgerech’net worden seien kann, Werner, denn weder das Schicksal noch dein G’lück noch deine Stellung in dem großen Ganzen sind zu berech’nen. Die ganze Mathematik - ta matheimata - ist eine Sache der Welt und nicht der Schöpfung.“
„Wieso das denn? Durch die höhere Mathematik ward immerhin herausgefunden, dass der Kosmos aus ung’laublich vielen Dimensionen besteht!“
„Na, und? Deutest du den Kosmos als die Schöpfung? Der Raum der Schöpfung ist ein Gedächt. So, wie auch die Zeit, die Causalität, das Geld und dessen angeblichen Functionen, das Ich, die Schuld, der Tod, und derlei mehr. Die ganze Rech’nerei mit ihren Zahlen und Variablen bleibt in allen - einerlei wie vielen - Dimensionen nur seelenleere Logik und allso weltlich, denn schon eine Dimension ist ein aus der Ganzheit der Schöpfung herausgetrennter Aspect, der ihn und den Rest grenzt und sondert. Wer kam auf die sonderbare Teilsicht der Höhe als etwas Anderes denn die Breite und die Tiefe? Sah dieser Mensch nicht das ganze Bild vor Augen? Und auch schon der lateinische Name ‚Dimension’ ist verdächtig, denn er entspricht dem deutschen Namen ‚Ausmessung’. Ist die ungeteilte Schöpfung anteilig zu vermessen? Wer misst denn nicht existente Splitter darinnen ab, die nur in des Messenden eigener Deutung Einzelteile sind? Es ist allso viel eher vermessen, sie zu vermessen zu suchen! Derg’leichen Paradoxa können nur dem gottlosen Menschen einfallen, der angesichts seiner eigenen Welt die Schöpfung aus dem Auge verlor und der dann in seinem Wahne auch von dir verlangt, in Mitten der Schöpfung etwa Miete bezahlen zu müssen und ihn ‚Herr’ zu nennen. Pervers finde ich das, wenn ich ’s streng nehme, und insofern kann ich deine Verbitterung darüber durchaus nachempfinden, Werner. Aber die Schöpfung ist spirituell geschaut und in Wahrheit nur eine einzige Immension. Eine immense Immension, sprich: eine unermessliche Unermesslichheit. Und ergo ist in der Schöpfung auch nur eine Zahl: die Eins. Schon mit der Zwei begann und beginnt der Dualismus, die entzweiende Zerspaltung der Schöpfung in „gut und bös“, in „Subiect und Obiect“, in „rechts und links“, in ‚morgen’ und ‚gestern’, in „wertvoll und wertlos“, in „männlich und weiblich“, in „das Ich und die Andern“, in „reich und arm“. Die Hölle des Menschen ist die Zerspaltetheit der Schöpfungsganzheit und sein G’laube, diese Gespaltetheit sei die große Wahrheit.“
„Oho! Das sind hohe Worte, mein Lieber! Aber mit „Reich und Arm“ sind wir wieder bei meinem Besten: nämlich dem Gelde! Und mit dem muss sorgsamm gerech’net werden, wenn man nicht arm werden oder seien will. Aber du scheinst zu denken, dass das Geld auch nur eine unbedeutende Erfindung des Menschen sei, so wie die Dimensionen und die Zahlen.“
„Ja, wohl, diese Dreie, allso die Zahlen, die Dimensionen und die Moneten, sind nur Erfindungen ohne Wahrheit. Aber solche Erfindungen, die von den Erfindern bemerkenswerter Weise nicht als Erfindungen, sondern als „die Wahrheit“ erachtet warden und werden, weil sie nicht bemerken, dass sie jene erfanden oder erfinden. Darin sind sie aber in illustrer Gesellschafft. Schon Aristoteles zerteilte in seiner „Metaphysik“ die Schöpfung, ohne dass ihm dies klar war. Er erteilte seinen Sinnesvernehmungen insofern Geltung, als sie (Er-)Kenntniss des Einzelnen gewährten ‚ekasta gnoseis’. Er sah allso ‚Einzeldinge’ und bemerkte nicht, dass er die - wie er vermeinte zweifellos und klar ersichtliche - Vereinzeltheit dieser als Einzelne gesehenen „Dinge“ oder eher „Seiende“ (‚ta onta’) eigens durch sein einzeldeutendes Sehen erst gemacht hatte.“
„Du willst sagen, die einzelnen Dinge seien eigentlich nicht einzeln?“
„Ja. Zumindest vermute ich dies.“
„Und was ist denn mit dem Ding an sich, das wir nach Immanuel Kant nicht erkennen?“
„Das ist es ja! Kant war schon so weit zu bemerken, dass der Mensch in der Begrenztheit seines Vernehmvermögens nicht die Qualität eines vernommenen Dinges, sondern nur dessen Erscheinung zu vernehmen vermöge, jedoch ging er nicht so weit, die Dingheit des Vernommenen in Frage zu stellen. Vielleicht ist das „Ding an sich“ nicht zu erkennen, weil es nicht ein einzelnes Ding an sich, sondern ein unabgetrennter Bestandteil eines Größeren oder gar eines großen Ganzen überhaupt ist. Gewiss sind wir selbiger Ansicht, wenn wir einen Garten erblicken und darinnen etwa eine Kiefer und zwei Birken als im Grase stehend ansehen. Dann könnten wir ja consensitiv sagen, die Kiefer und die beiden Birken seien drei Einzeldinge in Mitten des Gartens. Aber ich vermute, dass wir mittels der sinnlich vernehmbaren, allso körperlichen Anderheit der Bäume untereinander und des Gartens als Ganzen zwar nicht umhin können, dies so zu deuten, dies aber keinen Beweis in sich trägt, dass es wahrhaftig so sei. Mir ist nämlich eben so wohl denkbar, dass die Bäume und der Garten eins seien, und die Bäume nur die „Früchte“ oder vielleicht besser: lebende Hervorbringungen des Gartens sind, so, wie etwa die Haare Hervorbringungen der Haut seien mögen, in Wahrheit aber mit der Haut und dem ganzen Wesen eins sind.“
„Und du bist sicher, dass du gesund bist?“, staunte Werner beinahe erschrocken.
Hans lachte köstlich amüsiert und bekannte dann: „Nein, überhaupt nicht! Ein Psychologe könnte mir nun, wenn er wollte, attestieren, ich sei in der Separations- und Individuationsphase, besonders in der Differenzierung, wenn zwischen Subiect und Obiect und zwischen innen und außen zu scheiden gelernt wird, zu Schaden gekommen oder infantilistisch haften geblieben.“ Und er lachte erneut, bis er wieder ruhig sprechen konnte. „Aber du siehst, wie und in welchem Maße wir unserer Anlage gemäß geneigt sind, unserer trennenden Deutung des Vernommenen zu g’lauben, als sei sie keine Deutung, sondern Wissenschafft oder gar Erkenntniss, dass wir jemanden, der dies bezweifelt, als krank erachten.“
„Anders kann ich mir das auch nicht denken!“
„Jo, unser Denken ist begrenzt. Du kannst dir so, wie auch ich, Manches nicht denken; verzeih! Dies sage ich nicht als Schmähung wider dich. Vorhin erst konntest du dir nicht denken, dass du der Erste seien mögest, der mit der Bezweifelung des Geldwertes für dich beginnen möge. Du erinnerst das?“
„Ja, ich erinnere das. Es stimmt, was du sagst.“, bestetigte Werner sachlich und ohne Zorn.
„Wenn du der - aus deiner Sicht - Erste bist, dann weißt du, dass du kein Mitläufer bist, denn diese sind nie der Erste. Wenn ein Freund zu dir kommt und dich bittet, mit ihm gemeinsamm etwas Gutes zu tuen, fragst du ihn dann: „Warum ausgerech’net ich?“ Diese Frage käme doch eher aus dem Munde eines falschen oder doch zumindest nicht hilfsbereiten Freundes, nicht? Ich bin vielleicht der Erste, der die Trennung zwischen Subiect und Obiect und darmit auch zwischen erlebtem „Innen“ und „Außen“ theoretisch aufhebt und auch nicht darvor zurückschreckt, den berühmten Aristoteles als ungeheilten Menschen in von ihm zerspalteter Schöpfung zu kategorisieren. Dass nun auch du der Erste seien mögest, ergiebt sich aber aus dem Unleugbaren, dass du immer als der Erste gefragt bist. Wenn du der Erste bist, mit dem etwas Gutes geteilt wird, dann magst du auch eben so wohl der Erste seien, der etwas Gutes mitteilt.“
„Das stimmt ja nicht! Ich bin doch nicht der Erste, mit dem etwas Gutes geteilt wird! Immer sind schon Andere vor mir an der Reihe!“
„Und wohnst doch in einem der schönsten Wohngebiete Hamburgs …“
„Jo, aber nur zu ’r Miete!“, unterbrach Werner trocken.
„… und unterhältst ein Bureau in der Bellevue! Der scheele Blick erspäht nie das Erste, sondern immer etwas um die Ecke. Du bist ja nicht der erste gezeugte und geborene, scheinbar einzelne Mensch. In der Historie der scheinbaren Zerspaltung der Schöpfung kann Keiner sich als den Ersten finden. Was hindert dich aber, dich als den Ersten hier und nun zu deuten? Den Ersten unter Gleich-Ersten? „Wer ist denn mein Nächster?“, fragte ein Pharisäer, der ebenso nicht der Erste zu seien wünschte, der einem Bruder die Hilfe gewährte. Auch du versuchst, dich hinaus zu winden. Wenn du die Hürde bemerkst, dann bist du der Erste, der sie zu überwinden versuchen sollte. Statt dessen versuchst du, aus dem rechten und dir zugewiesenen Platze und sozusagen nicht archimedisch, doch egomanisch dich aus den Angeln der Schöpfung auszuheben. Das kannst du zwar tuen, aber dann musst du auch lange, lange vergeblich warten, bis du dich am rechten Orte erkennst. “, commentierte Hans.
„Archimedes wollte mittels eines festen Puncts aber nicht einen Menschen oder das Ich, sondern den Kosmos aus den Angeln heben.“, gab ich zu bedenken.
„Du und die Schöpfung sind eins und selbig, auch wenn du denkst, du seiest „innen“, und „außen“ sei die Welt. Doch diese Welt und jene Trennungsdenke sind nicht wahr.“
Dies Wort bewog uns alle zu einer längeren, bedächtigen Stille, denn so hatten wir Alle das noch nicht gesehen. Und so fragte ich Hans denn: „Die Welt ist nicht die Schöpfung. Das gefällt mir wohl, was du sagst, weil die Welt ja vergänglich ist und die Schöpfung nicht. Und dann sind so viele Welten, wie Menschen sind, hingegen alle Menschen in der einen und einzigen Schöpfung verbleiben. Ist die je eigene Welt aber das Ich? Und denkst du, es sei dies Ich, das die Welt im Innersten zusammenhält, was Doctor Faustus zu suchen bekundete und doch nicht fand?“
Das schien Hans wohl zu gefallen, was ich gesagt hatte, obwohl ich ihm ansah, dass er das zunächst nicht gänzlich so gemeint hatte, und er nickte freudig zustimmend: „Ja! Wunderbar erhört! Aber im letzten Punct auch: nein. Das Ich ist zwar die erdeutete Mitte der je eigenen Welt, jedoch was Faust zu suchen vorgab, obwohl das leider im weiteren Verlaufe des Dramas vergessen ward, nämlich was diese im Innersten zusammenhält, das ist die Schuld.“
„Die Schuld?“, staunte Jan.
Werner hingegen war heftig zu verurteilten bewogen: „Jetzt redest du nur noch Unsinn. So ein Gewäsch!“ Er zürnte geradezu, ohne dass mir ersichtlich war, weswegen er auf dies Wort ‚Schuld’ hin der Maßen zürnte. Vielleicht lag hier der Grund, wieso er sein Geld als „sein Bestes“ wertete, weil er die Schuld oder etwas ihm Namenloses unbewissentlich hasste, das die beunfreiende Art der Welt war, und das Geld ihn aus ihr loskaufen sollte?
„Was die Welt zusammenhält, das ist die Schwerkraft. Ohne diese stöbe Alles auseinander.“, setzte er hart und dogmatisch sich und uns fest und schien allso auch seinerseits nicht zu wissen, wieso ihn die Schuld als das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, so ärgerte.
„Wenn du unter ‚Welt’ das stoffliche All verstehst…“, ging Hans ruhig darauf ein, „… dann mögen wir wohl über das ‚Schwerkraft’ genannte Wirkverhalten der Massen zueinander sprechen. Aber deine Welt ist das All nicht, denn diese ist der kleine Teil, den du von dem Alle vernimmst, vernommen hast, dir deutend zurechtlegst und zurechtgelegt hast. Und auf dieser Ebene lebt ein jeder in seiner eigenen Welt, in der die Schwerkraft und die Masse letztlich unbeachtet und ohne Belang bleiben.“
„Trotzdem ist nicht die Schuld das, was meine Welt in ihrem Innersten zusammenhält!“, bestand Werner auf seinem Gedanken.
„Sondern was?“, fragte Hans ihn. „Vielleicht das Geld?“
„Wieso denn das?“
„Weil du immer so darüber sprichst, wie über das Wichtigste der ganzen Welt. Vor noch nicht einer Stunde sagtest du noch, das Geld sei „Dein Bestes“; erinnerst du das?“
„Jo! Aber das war doch nur eher ein Wortspiel!“
„Das soll mich freuen, Werner; ehrlich. Es klang aber minder spielig, doch eher bitter, ja: verzweifelt, mein Lieber!“
„Nicht privat streiten, Jungens! Nur vor Gericht!“, mahnte Jan.
„Tuen wir ja nie; das weißt du doch wohl.“, beteuerten Werner und Hans, jeweils mit der rechten Hand auf je ihrem Herzen. Dann blickten sie einander an und mussten beide lächeln. Die Beiden waren einander wirklich lieb, und das seit vielen Jahren, allen ihren noch so bunten oder irren Weltdeutungsverschiedenheiten zu ’m Trotze.
„Aber dann lasst uns doch den Gedanken in Ruhe und freundlich durchdenken.“, riet Jan. „Was ist denn die Schuld, dass sie die Welt im Innersten zusammenhalte? Hans, du meinst das doch nicht physikalisch, sondern irgendwie gedanklich, nicht?“
„So, wie du sagst, meinte ich es.“, nickte Hans. „Gedanklich, weil auch die Welt nur ein Gedankengefüge ist.“
„Aber was ist die Schuld denn, wenn wir sie so sehen? Dann meinst du ja auch nicht ‚Schuld’ im iuristischen Sinne, oder?“
„Nicht iuristisch, stimmt.“
„Ja, was ist sie denn?“
„Die Schuld ist der wehe Fußabdruck des Nichts.“, schmunzelte Hans.
„Jo!“, lachte Werner auf. „Nachdem Es uns kraftvoll in den Mors getreten hat!“
Alle lachten.
Und Jan fragte schmunzelnd staunend: „Oh! Inwiefern tritt uns das Nichts denn aber in den Allerwertesten? Erkläre das doch bitte genauer! Ich als Iurist wüsste zu gern, ob hier vielleicht ein Straftatbestand vorliege.“
Hans gab ihm die Erklärung, indem er lächelnd sprach: „Ist ja nur symbolisch gemeint. Das Nichts ist ja nicht Nichts, sondern mindestens etwas Gedachtes. Im Falle der Schuld im Plural, allso der Schulden auf der Banc, ist das Nichts eine zu zahlende Summe, allso ein Etwas, das (noch) nicht dar ist, aber dar seien oder werden soll. Und im Falle der Iurisprudentia - nicht, Jan? - ist sie ein ähnliches Soll, denn der als schuldig erachtete Täter des „Bösen“ soll dies büßen, sprich: wiedergutmachen, wenn das denn möglich ist. Das wäre etwa eine Schadensersatzzahlung. Aber auch die ist (noch) nicht dar und soll es erst werden. Aber ist der wenn auch von Sachverständigen begutachtete und attestierte Schaden ein Etwas? Er ist ja kein Ding und erst recht kein Geschöpf Gottes, sondern lediglich eine gewertete Qualität, allso ein Nichts in Tüten sozusagen. Allgemein menschlich ist die Schuld eine Erfindung, die sich auf den G’lauben an die Wahrheit des Schadens stützt. Wie viele Menschen g’lauben wie innig an diese Wahrheit, die diametral entgegengesetzt zu der Wahrheit ist, die der Christus ist. Und wie viele Menschen g’lauben, sie g’laubten an den Christus, der die Wahrheit ist, und g’lauben zugleich und doch viel stärker an die Wahrheit des Schadens und an die der Schuld? Und ihre Welt wird insofern im Innersten durch diese Schuld zusammengehalten, weil sonst kein Grund bestände, diese tote Welt nicht gegen die einzig lebende Schöpfung gedanklich auszutauschen. Aber sie suchen ein unmögliches G’lück in der vergänglichen Welt und kommen immer nur zu einem wie auch immer gedeuteten Schaden, weil ihre Welt vergeht. Was aber ist der Schaden daran, dass etwas Vergängliches vergeht und vergangen ist? Nur der eitele Traum des Menschen, der das Vergängliche noch für die Erfüllung seines weltlichen G’lückstraumes zu nutzen wünscht, deutet einen Schaden in diesen Vorgang hinein. Allso sind der Schaden und die Vergängniss in Wahrheit nichts. Und dennoch wird uns so weh um ’s Herz, wenn etwas vergangen ist, daran wir unser Herz gehängt haben. Nicht?“
„Mensch, Hans! Du hättest Cancelprediger werden sollen. So schön wie du hat mir das noch nie jemand erklärt. Ehrlich!“, bekannte Werner ohne Spott.
„Oder Anwalt! Du könntest den härtesten Vorsitzenden vor Gericht weichreden!“, stimmte Jan bei.
„Das freut mich wirklich! Aber siehe: dein Bestes, Werner! Angesichts des unbedingten Scheiterns der vergänglichen Welt ist dein Bestes nicht doch vielleicht etwas Anderes denn der tote Mammon?“
Werner bedachte gutmütig die so gestellte Frage, kam aber zu keiner Antwort. Statt derer blickte er Hans erwartend an.
Dieser sprach darauf: „Dein Bestes ist dein gutes Herz.“
„Ja? Und was nützt mir das gute Herz?“
„Das gute Herz ist wichtiger denn die bunten Scheine, weil es der Sitz der Freude ist. Ohne den Mammon vermagst du dir keine Dinge zu kaufen und die Rech’nungen nicht zu begleichen, hingegen kannst du dich derweil mit deinem guten Herzen dennoch an Liebe und an Freundschafft erfreuen. Mit dem Mammon vermagst du dir alles begehrte Weltliche zu kaufen, auch gar Weiber, welche deinen Sinn vielleicht betören oder bis zu ’r Raserei erregen, über die sich jedoch nur dein gutes Herz freuen kann. Dein größter Schatz ist dein gutes Herz, mein lieber Werner. Weißt du, als deine Mutter deinen Hunger noch mit ihrer Milch stillte, gab sie dir nicht nur die buchstäblich mater-ielle Milch, sondern auch immaterielle Freude. Sie freute sich, dass du dar warst und sie deinen Hunger zu stillen vermochte, dass es dir gut sei. Die Menschen wissen nur unvollkommen, was die Liebe ist, aber in der unschuldigen Freude, mit jemandem zu beider Wohl teilen zu können, kommen sie ihr schon recht nahe. Wenn du aber nun nur weibliche Körper mit üppigen Brüsten wünschtest, deren Freude, mit dir das Leben teilen zu können, dir einerlei wäre, dann hättest du in Deiner Kinderzeit nur das Stoffliche, nicht jedoch das gute Herz gewonnen. Wäre das nicht armsälig?“
„Jo, Hans! Wenn du das so schön sagst, dann wird’s wohl stimmen.“, sprach Werner, aber seine trübe Miene heiterte sich dennoch nicht auf.
„Du sagtest nicht, was Jemandem sein gutes Herz nütze, um aus der Schuld zu gelangen, Hans.“, erinnerte ich. „Vielleicht dünkt das Geld Werner als sein Bestes, weil er sehnlichst versucht, sich mit ihm von dem loszukaufen, das die Welt im Innersten als sein Gefängniss zusammenhält? Aus der Schuld endlich freizukommen, erschiene mir als das Beseligendste überhaupt, und wenn Geld das Mittel darzu wäre, dann deuchte es auch mir als das Beste oder als mein Bestes.“
Alle bedachten schweigend dies Wort. Nur Werner blickte mich zunächst erstaunt und dann wie erkennend lächelnd an, nachdem er meine Sprechwörter in seine Denksprache übersetzt hatte, die ich nicht kannte und nur vermutete.
„Das ist gut, was du sagst, wirklich gut!“, lobte Hans. „Du at’mest der Sache noch etwas mehr Leben unter. Aber es widerspricht nicht dem schon Gefundenen, nicht? Das Beste ist dennoch Werners gutes Herz, weil er sich ja letztlich doch nicht aus der Schuld freizukaufen vermag, sondern wahrhaftig nur freizulieben.“
„Schön, Hans. Aber wie erlöst ihn das gute Herz aus der Schuld?“
„Das weiß ich doch nicht! Aber wenn ihn überhaupt etwas erlöst, dann gewiss nicht ohne sein gutes Herz.“
„Einverstanden, Hans. Und es ist nicht schlimm, dass auch du mal etwas nicht weißt, denn auch sich freizuwissen ist eben so wenig möglich wie sich freizureden oder freizukaufen.“
„Oh, du Schlimmer! Das treibt mir redlichem Red’ner doch geradezu die Schamesröte in ’s Antlitz!“, entsetzte Hans sich theat’ralisch.
„Bist du sicher, dass die Röte nicht vom roten Weine kommt?“, witzelte Werner.
„O nein! Eher vom Mangel an Weißwein!“, conterte Hans.
„Dann schnell nachgeschenkt! Kellermeister!“
„Zu ’r Stelle!“
„ Walte er seines Amtes!“
„Ja, wohl, Sire.“
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.
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