Sonntag, 11. November 2012

6. Was ist Wahrheit?

6. Was ist Wahrheit?



„Habt Ihr das Befragungsgespräch in der NZ mit dem buddhistischen Historiker gelesen?“, fragte Jan, als er zu uns hereinkam.
„Nein. Erzähle, wenn es Interessantes enthält!“
„Inter-Essantes? Zwischen-Seiendes? Was ist das? Die meisten Leute nennen etwas ‚interessant’, das ihnen zu hoch ist und sie deswegen nicht interessiert. Dann sprechen sie: „Hach, das ist ja interessant!“ oder gar „hochinteressant“, und gehen dann schleunig zu anderen Gesprächsthemen über, die für sie allso offensichtlich inter-essanter sind. Aber bitte! Dieser buddhistische Historiker, ein Israeli namens Jojakim Benjamin Rabbiman, äußerte sich zu ’m Holocaust, aber nicht so anklägerisch grau, wie wir das kennen, sondern erstaunlich anders.“
„Ein israelischer Buddhist?“
„Ja. Warum nicht? Buddhisten müssen doch nicht alle in Indien wohnen, oder?“
„Hast Recht. Dumme Frage. Ach, immer diese Clichés!“
Wir lachten und Jan fuhr fort: „Dieser Rabbiman sagte, er erachte die historische Realität, dass von 1933 bis 1945 in den deutschen KL Millionen Menschen gestorben seien, nicht als die Wahrheit.  Zunächst dachte ich, er sei ein tumber Anhänger der Auschwitz-Lügen-Lüge, aber das war voreilig, denn auch der ihn befragende Journalist fragte unverzüglich genau dies nach: „G’lauben Sie etwa, dass der Völkermord an den Juden und den anderen ethnischen Gruppen in deutschen KL eine bloße Erfindung, allso eine Lüge sei, wie es die Neonazis tuen?“ Nein, versicherte der Israeli, er sehe den Genocid durchaus als historisches Datum, allso als verbürgte Tatsache, mithin als eine durchfahrene, durchwordene, ja: durchlittene Wirklichheit an, aber eben nicht als Wahrheit. Nun begann die Sache, für mich und auch für den ihn Befragenden erst eigentlich interessant zu werden. Inter-essant nämlich in dem ursprünglichen Sinne, dass zwischen dem Gesagten und mir und offenmerklich auch dem Journalisten Etwas war, weil dort eine große Spannung knisterte, was der Befragte nämlich meine und wie er es plausibilisiere. Und dort war als das uns Spannende die Erwartung, dass eine große Frage nun größlich beantwortet werden müsse und wohl auch werde. Dieser buddhistische Historiker staunte nämlich zu unserem Erstaunen seinerseits, indem er die Frage stellte: „Wie können Sie und die vielen Millionen in Europa und America, die an den Christus als die Wahrheit g’lauben, ernstlich mit dem selben Atem g’lauben, der Genocid sei Wahrheit?“
Und Jan blickte in die Runde, um sich an unseren erstaunten und fragenden Mienen genüsslich zu weiden. „Jo, so ging das auch mir, als ich das hörte. Was ist denn das Eine mit dem Andern zu verbinden, dachte ich? Na, Ihr könnt Euch denken, dass auch der Journalist sozusagen baff war. Dieser Rabbiman schien das nicht zu beachten und führte seinen Gedanken aus, indem er beinahe naiv sagte: „Wenn Euer Christus, an den Ihr Europäer zumeist g’laubt, die Wahrheit, die Auferstehung und das ewige Leben ist, dann kann ein Mord im Sinne einer Lebensbeendigung nicht zug’leich wahr seien, oder? Wenn Sie allso an den Christus g’lauben, dann g’lauben sie, dass die Wahrheit das ewige Leben sei; dann können sie nicht zug’leich g’lauben, ein Mord sei wahr, denn ein Mord nähme oder beendete das Leben, welches allso nicht ewig wäre.“. Na, was sagt Ihr darzu?“
„Ja, so formallogisch ist das wohl richtig. Aber es sind ja mehrere Wahrheiten hier und nicht nur der Christus. Oder will dieser Buddhist die These behaupten, das, was in der Welt jedes Tages geschieht, sei nicht wahr?“, warf Werner ein.
„Und inwiefern sei die Wirklichheit nicht das Selbe wie die Wahrheit? Und wieso mag der Christus denn überhaupt die Wahrheit seien? Die Wahrheit kann man ja vielleicht sagen, aber wie kann sie denn Einer seien? Ich denke, der Christus sei der Sohn Gottes?“, stimmte ihm Jan nickend bei. „Ihr seht, ich war nicht nur, sondern bin immer noch nicht aus dem Staunen hinausgekommen.“
„In Joh 14,6 sagt der Christus, er sei die Wahrheit.“; dass er der Sohn Gottes sei, sagt er jedoch an keiner Stelle unumstritten.“, erklärte ich. „Die Bibelforschung erachtet solche Stellen (etwa Joh 5,37; 10,36) als verfälschende Nachträge.“
„Aber Jesus sagt doch immer zu oder über Gott „Mein Vater im Himmel“; allso ist er doch der Sohn, oder?“
„Ja, schon. Aber der Vater im Himmel ist doch auch unser Vater, nicht? Oder bist Du eines anderen Vaters Sohn? Und wer sollte dieser seien? Allso sind wir allesammt der Herkunft nach Gottes Söhne, nicht nur der liebe Jesus, unser großer Bruder sozusagen.“
„Gut; wenn Du es so nimmst, dann bitte. Aber wie kann denn einer die Wahrheit seien? Jemand kann sie aussprechen, sagen, verkünden, aber doch nicht sie seien!“, protestierte Werner.
„Wenn Du den Christus als Person zu simplificieren versuchst, dann kommst Du zu keiner Wahrheit im spirituellen Sinne. Wenn der Christus aber der Weinstock ist und wir die Reben (Joh 15,5), dann wird uns deutlich, dass er sich nicht als Person zu erkennen gab oder giebt, sondern eher als ein uns nährendes Etwas, dessen Teil wir sind. Dass wir, die Reben, gespeist werden und nicht uns aus eigener Kraft ernähren, ist die Wahrheit gegenüber dem Traume, wir seien Täter und unsere eigenen Nährer und Führer.“
„Ach, so? Ja, warum legen wir dann nicht einfach die Hände in den Schoß und warten wie im Schlaraffenlande darauf, dass uns die gebratenen Tauben in ’s Maul fliegen?“
„Wir werden bewegt, indem wir uns bewegen lassen und der Bewegung gemäß handeln. Was du sagst, ist Bewegtwerdensverweigerung und Handelnsverweigerung. Das ist die Haltung des Fallobstes, das vom Baume fiel und nun faulend faul darauf wartet, dass höher entwickelte Seiende etwas mit ihm beginnen.“
„Junge, was du alles weißt! Aber der größte Teil der Menschheit denkt so, wie ich das sagte. Oder siehst du das anders?“
„Nein, du sagst das schon trefflich. Aber so kommen wir der Wahrheit ab und zu ’r Politik hin. Die Wahrheit aber ist ja nicht einfach so der Christus oder umgekehrt; die Wahrheit soll als etwas dargestellt werden, das höchste Vertrauenswürdigheit bedeutet. Eine weltlich gedeutete Wahrheit wäre eine Übereinstimmung einer Benennung mit einem Benannten oder einer Aussage mit ihrem Gegenstande. Dieser Gegenstand, dies Benannte, ist eine Tatsache, ein Seiendes, ein Ding oder eine Dinglage, die heute so ausfällt und morgen anders und am Ende sich gar widerspricht. Einer solchen Wahrheit aber ist letztlich nicht zu trauen. Sie ist bitter, tückisch, grausamm, denn sie zeigt sich uns heute als warmes schönes Wetter und morgen als kaltes, zerstörerisches Unwetter, diesjährig als guter Freund, nächstjährig jedoch vielleicht als böser Feind, weil die Gutheit nur dem Augenblicke galt und später in Bösheit umschlug. Oder sie zeigt sich heute als freundlicher Nachbar, der aber morgen vielleicht unsere Kinder ver- oder entführt oder misshandelt. Oder etwas scheint ein getrenntes Ding für sich zu seien und ist eines Tages nicht mehr dort, weil sich zeigt, dass es vernichtet worden ist. Dies ist die „Wahrheit“ der Welt, welche ohne Bestand ist. Aber die Wahrheit jenes Weinstockes ist anders, weil sie unwandelbar und stets die Selbe ist, weil dieser Weinstock zug’leich auch der gute Hirte ist, das Brot des Lebens, ja: die Auferstehung des Menschen ist. Die Welt mag noch so irre gewandelt werden, diese Wahrheit bleibt immer g’leich und aus aller Irre der einzige Ausweg hinaus. Aber mir scheint, dass immer mehr Menschen das nicht wissen und auch nicht zu wissen wünschen. Sie begehren stattdessen vornehmlich Geld, um dem Dünkel, Täter zu seien, besser weil erfolgreicher frönen zu können. Und die Kirchen rennen hinter diesen Heiden der Gesinnung nach her und versuchen, durch Zuwendung zu politischen Themen, Wertungen, Verurteilungen und Forderungen den Leuten nach dem Munde zu reden, um sie als ihre Mitglieder nicht zu verlieren.“
„Stimmt! Und je politischer eine Kirche ist oder auftritt, desto mehr ihrer Mitglieder g’lauben an die Welt als die Wahrheit. Das sehe auch ich so.“
„Aber wie können sie das, wenn die Welt nicht wahr ist, und politische Forderung immer nur die Welt betrifft?“
„Sie wissen nicht, was wahr ist, und verwechseln so, wie der prüflose Volksmund, die Wörter ‚wahr’ mit ‚wirklich’, ‚tatsächlich’ und mit ‚real’.“
„Was ist der genaue Unterschied unter den vier Wörtern?“
„’Wahr’ nennt „das Vertrauenswürdige“, ‚wirklich’ nennt „das, was wirkt“, ‚tatsächlich’ nennt „eine Sache der Tat“ und ‚real’ nennt „das Dingliche“.“, sprach Hans leichthin.
„Könntest Du diese Unterscheidung plausibilisieren und vertiefen?“
„Gern. Die vier Adiective sind allso 'wahr', 'wirklich', 'tatsächlich' und 'real'. Dies letzte stammt aus dem lateinischen Adiectiv 'realis' und ist aus dem lateinischen Substantiv 'res' zu verstehen, welches gemeinhin mit der deutschen 'Sache' oder dem 'Ding' g’leichgesetzt wird. Demnach wäre 'realis' mit 'sächlich' oder 'dinglich' zu übersetzen. Allso sind Gedanken nicht real, weil Gedanken keine Dinge sind. Aber wenn die Gedanken wirken, dann sind sie wirklich. Aber erst, wenn sie in die Tat umgesetzt werden, sind sie tatsächlich, allso: "einer Sache der Tat g’leich". Hingegen ‚wahr’ noch wieder Anderes nennt, wozu eine kleine Geschichte helfen möge: Jemand erzählt einem Anderen, dem er einen Streich spielt, im Winterhuder Stadtparc werde Freibier ausgeschenkt. Der Andere bemerkt nicht, dass er gefoppt wird; er g’laubt dem Sprecher dessen Lüge, die allso keine Wahrheit ist, und geht nach Winterhude in den Stadtparc, den er ohne seinen G’lauben an diese erlogene Geschichte nicht aufgesucht hätte. Allso ist die Lüge wirkend wirklich und, weil sie in der Tat ausgesprochen ward, ist sie auch tatsächlich, jedoch bleibt sie als etwas Erlogenes unwahr und, weil sie kein Ding ist, irreal. Nachzulesen ist all dies etwa im Band 7 der DUDEN-Reihe: allso in einem Herkunftswörterbuch alias einer Etymologie.“
„Und wieso wissen die Kirchenleute solche Unterschiede nicht? Studierte Theologen, bedenke!“
„Die Sprachwissenschafftler, allso nicht die Sprachwissenschaffter, sondern die Jenigen, welche nur oberflächlich wissenschaffteln, hängen ihr Fähnlein nach dem Winde und sagen, die Bedeutungen der Wörter hätten sich verändert, so als könnten diese unbedeutsammen Bedeutungen sich aus eigener Kraft verändern. Darbei ist klar, dass die Veränderung zumeist durch jene Sprecher geschieht, die die Sprache nur fehlerhaft und unvollständig erlernten und dann diese Fehler so lange wiederholen, bis die Mehrheit der Spreche sie mitmacht und dann als neue Norm und mit dieser als ‚richtig’ ausgiebt. Darzu weiß ich schlimme Fälle zu benennen. Eine Leserin der Monatszeitung eines deutschen Sprachvereines hatte bemerkt, dass immer mehr Leute sprechen: „Ich entschuldige mich“ und fragte an, ob dies nicht eigenherrlich sei und es besser sei zu sagen: „Ich bitte um Entschuldigung“? Die Antwort der Frauen und Herren Sprachwissenschafftler verwies darauf, dass man das früher so gesagt habe, es aber heute auch anders üblich sei und man könne das allso heute ruhig so sagen. Das klingt mir so als wenn ein Ethikwissenschafftler uns verkündete: „Zu lügen war früher verboten; heute ist es aber allgemein üblich zu lügen. Sie können allso ruhig auch lügen. Die Sitte hat sich eben aus eigenem Vermögen heraus geändert.“ Fändet ihr einen solchen Prediger nicht reif für die Klapse? Aber mit der Sprache kann man das ruhig machen, ja? Oder was wohl die Beamten des Fiscus dächten und sprächen, wenn heutige Wirtschafftwissenschafftler sprächen: „Eine gerechte, ungefälschte Steuererklärung gab man früher ab; heute aber ist es durchaus üblich, auch verfälschte Steuererklärungen abzugeben. Sie können allso ruhig den Fiscus betrügen.“
Wir lachten!
„Ja“, fuhr Hans fort, „Warum soll man denn, wenn man gar die eigene Sprache und mit ihr das eigene Denken verfälschen mag, nicht auch das Amt und den Staat betrügen, nicht? Darbei wäre das ja üb’rigens schön bequem, wenn ich mich mal eben sozusagen einseitig und eigenmächtig zu entschuldigen vermöchte, wenn ich denn bei jemandem tatsächlich in Schuld stände. Ich könnte allso arrogant bleiben und müsste niemanden erst womöglich kniefällig bitten, dass er mir die Schuld, in der ich bei ihm stehe, vergebe, nein, ich machte das einfach in eigener Sache nur mit mir ab; das schmeichelte dem Ego aber schön! Wenn ich auch in Schuld stehe oder schuldig bin, na, gut, dann entschuldige ich mich eben aus eigener G’nade; oder was? Ist etwa zu g’lauben, dass echte Wissenschaffter solche Oberflächlichheit nicht bemerkten? Denkt euch einen Bancier, bei dem ihr im Soll, sprich: in Schuld steht. Was denkt ihr, dächte dieser, wenn ihr hingingt und ihm sagtet, ihr entschuldiget euch, und zwar nur mit Worten und ohne Geldgabe an ihn? Der Bancier würde euch als der Realität verlustig oder sonstwie krank erachten. Ihr seid erst dann entschuldigt, wenn er es euch sagt, und dass er es sage, müsst ihr ihn bitten oder mit Geld bestechen. Oder ich nenne noch einen zweiten Fall: Ich habe ein Lichtbild aus einer Tageszeitung ausgeschnitten, auf dem zu sehen ist, wie ein Deutschlehrer in einem Privatgymnasium in oder bei Hannover während des Deutschunterrichtes die Vergangenheitsform erkläre (so steht das unter dem Photo in der Zeitung). Auf der Photographie ist eine Tafel in einem Unterrichtszimmer zu sehen, auf der denn auch tatsächlich „Vergangenheit“ zu lesen steht, und darunter: „Perfekt: wenn man über Vergangenes redet“, wobei das ‚redet’ unterstrichen ist. Darzu zwei Sätze mit „ist gelaufen“ und „hat gelacht“. Dass ‚Perfect’ (gemeint ist eigentlich „Präsens Perfect“ im Unterschiede zu „Futur Perfect“ alias „Futur II“ und zu dem „Plusquamperfect“) aber auf Deutsch die „vollendete Gegenwart“ und nicht die „Vergangenheit“ alias „Präteritum“ benennt, stellte dieser Lehrer zumindest für das gesprochene  - er schrieb: „das geredete“ - Wort unredlich in Abrede. Dass die meisten Sprecher des Deutschen so sprechen, nämlich immer wie kleine Kinder zu erzählen: „Erst hab’ ich das gemacht, dann hab’ ich das gemacht, und dann ist der Bernd gekommen und hat das gemacht.“, will ich nicht bezweifeln, aber das ist simp’les Kinderdeutsch, welches bezeugt, dass Kinder das Vergehen und mit ihr den Verging und das Vergängniss (alias „Präteritum“) gedanklich noch nicht erschlossen haben. Dass man nun aus diesem fehlerhaften Sprechen ein richtiges Deutsch zu machen versucht, indem man es einfach als nicht fehlerhaft declariert, anstatt die Fehler zu berichtigen und somit das Denkvermögen steigert, ist armsälig, das ich mit ‚ä’ schreibe, weil es - nebenbei gesagt - mit ‚selig’ gewiss nicht verwandt ist, sondern mit ‚Armsal’. Kurz, diese beiden Fälle mögen Euch belegen, wie erbärmlich wenig die Sprache auch den Sprachwissenschafflern gilt. Sie wird wie ein wandelbares Obiect gehandelt, das sie sich von ihren mangelhaft lernenden Zöglingen widerspruchslos wandeln lassen und hernach das Gewandelte als das Richtige ausgeben, weil das Gewandelte sich ja von selber gewandelt habe. Eine schöne Wissenschafft!
Aber zurück zu den Wörtern, die angeblich ihre Bedeutungen geändert hätten, obwohl sie das nicht haben und nicht haben können. Kein Wort verfügt nämlich über ein Eigenänderungsvermögen. Allso nicht haben sich, sondern werden die Nennleistungen verändert, nämlich von den jenigen Sprechern, die ohne gedankliche Unterscheidung oder fehldeutend nachreden oder gar geistlos quatschen statt gewissenhaft zu sprechen und sich in Folge ihrer nur zahlenmäßigen Überlegenheit gegen gewissenhaftere Sprecher durchsetzen. Im Üb’rigen ist noch zu fragen, ob ein Wort etwas bedeute, oder ob nicht eigentlich nur mittels eines Namens etwas benannt werde, zu dem der Nennende etwas hinzudenken mag? Deswegen ersetzte ich vorhin die erwarteten ‚Bedeutungen’ durch die unerwarteten ‚Nennleistungen’. Erst die Einheit des Namens und des Hinzugedachten ergiebt das Wort. Hingegen könnte dem Namen eine Benennungsfunction zugedacht werden, die fälschlich und oberflächlich mit ‚Bedeutung’ verwechselt wird, denn wie oft bedeutet das Benannte oder das Hinzugedachte uns nichts? Ist es sinnvoll zu sprechen: „’Müll’ bedeutet „Abfall““, wenn der Abfall nichts bedeutet? Der Name ‚Müll’ benennt den „Abfall“, der mir nichts bedeutet. Das ist klare Sprache! Und die Leute der Kirche, die mit den arroganten Titeln wie „Theologe“ = „Gottwortler, Gottkundler“ oder „geistlicher Rat“ oder „Monsignore“ alias „mein Herr“ (der ja wohl nur unser Vater im Himmel seien mag, nicht?) oder als Cardinal gar „Eminenz“, weil er ja eminent höher steht denn seine Brüder in Christo, gefallen sich darin, angeblich „das Wort Gottes“ zu lehren, jedoch das Wort ihrer Sprache nicht zu achten, mittels dessen sie doch jenes Wort zu lehren suchen. Wer aber nicht in das Wort der Sprache hinein sinnt, um dort dem Geiste zu begeg’nen, der findet in der Bibel nur Buchstabenwörter ohne Geist, und allso gelangt er nicht in das Wort Gottes hinein, denn der Buchstabe tötet, aber der Geist giebt Leben (2.Kor 3,6).“
„Mein lieber Mann! So habe ich das noch nicht gehört und nicht gesehen. Im Worte kann man dem Geiste begeg’nen? Vor dir muss man sich üb’rigens in Acht nehmen. Hört Ihr, Freunde? In seiner Gegenwart sollten wir Alle nur mehr höchst bedachtsamm sprechen.“, merkte Jan an, ohne dass klar ward, ob er das buchstäblich oder ironisch oder eher bewundernd meinte.
„Das lobe ich ausdrücklich.“, schmunzelte Hans. „Aber Ihr tut dies schon lange, Freunde.“
„Aber lasst uns doch nochmals zu ‚wahr’, ‚wirklich’, ‚tatsächlich’ und ‚real’ zurückkehren. Was nennst du nun ‚wahr’, wenn du den Völkermord nicht wahr nennst? ‚Real’ im Sinne des ‚dinglich’ ist er doch auch nicht zu nennen, oder?“
„Richtig. Die KL waren und sind, sofern sie noch stehen, real, der Rassenwahn war wirklich und wirkte allso, die Taten der SS-Schergen waren oder geschahen tatsächlich, aber wahr im Sinne Christi kann auch das zahlenmäßig größte Verbrechen an der Mensch(lich)heit nicht seien, weil sie in Gott und in Christo, oder per Christum, wenn Ihr so wollt, nicht ermordet werden können und allso alle leben. „Unser GOTT ist kein Gott der Toten, doch der Lebenden, denn IHM leben sie Alle.“ (Lk 20,38.) Das aber ist die große Hürde für uns: Wir vermögen einen Mord nicht als unmöglich zu sehen, weil wir das Leben an dem von „innen“ bewegten Körper zu (be)greifen suchen, dieser jedoch nach dem „Morden“ nicht länger von „innen“ bewegt ist. Und wo ist das Leben dann geblieben? Es ist fort; so scheint es. Aber ist es „fort“, nur weil wir es nicht (be)greifen können? Aber streng genommen war es nie greifbar dort, denn der bewegte Körper war zwar greifbar, aber das ihn Bewegende nicht! Allso ist Ungreifbarheit kein Beweis für Abwesenheit. Wenn aber das Leben nicht fort ist, nur den Körper nicht länger von „innen“ bewegt, ist dann der Mord als gewaltsamme Beendigung des Lebens zu deuten? Iuristisch, ja. Aber im spirituellen Sinne ist dies nicht möglich.“
„Gemordet worden sind nach deiner Sichtweise die Juden und ihre Leidensgeschwister allso nur körperlich wirklich und zwar tatsächlich, jedoch die Wahrheit demnach etwas nicht Dingliches sei, etwas nicht Körperliches?“
„Ja, so sehe ich es.“
„Aber dann wäre ja die Wahrheit nur Geistiges oder Geistliches, oder wie du sagst: Spirituelles?“
„Ja. Spricht etwas darwider?“
„Aber die ganze Welt besteht in erster Linie aus wenn auch toten concreten Dingen und realen Zusammenhängen; das Geistliche ist doch nur zweitrangig.“, constatierte Werner.
„Das ist die Frage! Wir vernehmen das Geistliche ja nicht; mittels unseres Vernehmens gemessen ist allso das Geistliche quasi inexistent. Aber ist unser Vernehmen die Pforte zu der Wahrheit? Kannst du sehen oder hören, dass deine Ältern dich aus Liebe zeugten und gebaren? Das ist zu g’lauben oder auch nicht, aber so, wie du aufwuchsest, ist die Hauptsache doch nicht, dass du immer genug des Stofflichen, allso des Essens und des Trinkens und ein warmes Bettchen hattest, sondern die Hauptsache ist, dass du geliebt wardst und Liebe empfingst.“
„Das ist gut, was du sagst, Hans.“
„Allso nennen ‚wahr’ und ‚inconcret’ und ‚geistlich’ Selbiges. Anders gesagt: das Reale ist nicht wahr, das Tatsächliche, Wirkliche und Concrete hingegen nur in begrenztem Maße.“
„Hier fällt mir die kühne These wieder ein, dass die Einzeldinge vielleicht nicht einzeln und nicht Dinge seien. Erinnert auch ihr das?“, fragte ich.
„Jo! Diesen Anfall von Wahnsinn bei Hans können wir nicht vergessen!“, beteuerte Werner.
„Wieso Wahnsinn?“, spielte Hans den Empörten. „Ihr seid die Wahnsinnigen, die und so ihr an die Einzelheit des unabgeteilten Seienden wahr zu seien wähnt, indem ihr sie als ‚concret’ und ‚real’ benennt und aus der Ganzheit der inconcreten und nonrealen Schöpfung herausnehmt. Dann g’laubt ihr an sie als so seiend, wie sie von Euch erdeutet worden sind, weswegen sie wirklich werden. Darnach verdrängt ihr, dass ihr sie so deutet und setzt statt dessen Euer Erdeutetes als die Wahrheit. Der größt mögliche Eigenbetrug!“
„O Mann, Hans! Jetzt machst du mich gänzlich irre! Erst dachte ich, du sprechest wiedermales absichtlich geistreichen Unsinn. Aber jetzt klingt das ja so, als g’laubtest du das tatsächlich, was du uns sagst. Wie ist das denn nun?“, fragte Jan.
„Aber was ist denn so beirrigend an dem, das ich euch darlege?“, staunte Hans.
„Wie sollen wir denn unsere Welt und uns darinnen verstehen, wenn du uns die Einzelheit wegnimmst? Wenn das trefflich wäre, was du sagst, dann wären wir ja nur willenlose Grashalme auf einer Einheitsprärie und die Bäume und Büffel und Blesshühner auf ihr ständen oder liefen dort nicht als einzeln bewegte Körper für sich dort hin oder wider, sondern wären alle nur Grieskörner im selben Brei. Wo blieben denn all die Ecksteine unserer Welt?“
„Sie bleiben dort, dar sie schon immer waren: in je deiner Welt, welche ein Deutungsgefüge ist, das aber nicht selbig mit der Schöpfung seien mag.“
„Aber das zerreißt mir meine ganze Realität und mich als concreten Menschen g’leich mit!“
„Aber dies Zerreißen ist so wenig real wie dein Deuten wahr ist, Werner. Es ist dein Ausweg aus dem Dilemma der vergänglichen Welt.“
„Es ist trotzdem schlimm für mich!“
„Ich kann durchaus nachempfinden, dass du dies so deutest. Aber siehe, Freund: Nicht ich nehme dir durch meine Worte die Welt, sondern das Geschehen wird sie dir nehmen, vielleicht früher durch einen Nächsten, den du als Verbrecher erachtest, vielleicht später, bei oder in deinem Sterben. Bereitest du dich darauf vor, wird es minder schlimm für dich seien. Und nur so wirst du vergeben. Ich reiche allso keine Bedrohung, doch eine Tröstung. Diese aber muss niemand annehmen.“
„Dann sage doch mal, wie die Wahrheit ist, wenn gerade keine Wahrheit geschieht! Ich meine, wenn eine Lüge und ein Mord keine Wahrheit sind, was geschieht denn derweil? Nichts oder etwas Anderes?“
„Eine gute Frage. Ich denke, die Wahrheit ist die geschehende Nächstenliebe. Und wenn ein Mord geschieht, dann geschieht vielleicht durch den Mörder gerade keine Nächstenliebe, aber vielleicht durch den Ermordeten, der seinem Nächsten keine Schuld zuweist, weil er ihn so unschuldig liebt, wie Jeschua einst seine Kreuziger. Oder die Nächstenliebe geschieht vielleicht durch den Freund, der die Hinterbliebenen des Ermordeten oder des gefangenen und bestraften Mörders tröstet. Oder die Nächstenliebe geschieht nebenan zwischen scheinbar anderen Menschen, und das ist genau so gut, wie nicht nebenan, denn der Raum oder der Abstand zwischen den Menschen ist keine Wahrheit. Wo immer aber zweie oder dreie in seinem liebenden Geiste zusammen kommen, dar ist die Wahrheit die Mitte unter ihnen. Und diese Mitte ist unsere wahre Heimat.“
„Schön, Hans“, stimmte ich ihm bei. „Die Wahrheit ist unsere Heimat, auch wenn wir in unseren Deutungen in der Fremde wohnen und an diese als wahr g’lauben. Aber die Wahrheit als der Christus ist ja keine nackte Tatsächlichheit, weil der Christus ja auch der uns Reben nährende Weinstock ist. Er wird es uns nicht übel nehmen, wenn wir vom Sturme gepeitscht unsere Trauben verlieren und derweil nicht Seiner gedenken. Aber eines Stündchens verweht der Sturm und das Gedenken kehrt wieder in uns ein. Zu ’r rechten Zeit, zu unserer größten und freudigsten Feier.“
„Allso ohne Hetze zu ’r Eile?“
„Ohne Hetze, ohne Schuldmöglichheit, Werner.“
„Das finde ich gut. Dann bin ich darbei.“
„So, Jungens. Der Wein hier ist real und wirklich gut. Und Wahrheit ist ja eben so darinnen. In vino veritas; das wisst ihr ja. Wohlseien!“
Alle Mienen heiterten sich auf.
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.

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