Sonntag, 11. November 2012

14. Allso sprach Sarah Tusstrer

14. Allso sprach Sarah Tusstrer



„Hört mal her, Kinners!“, rief uns Werner mit wichtiger Miene eines Abendes zusammen. „Die Umwertung aller Werte, derer Nietzsche sprach, wie ihr ja wohl besser wisst denn ich, ist noch nicht vollendet worden, oder was denkt ihr?“, fragte er eines Abendes in unsere Runde herein.
„Ist sie nicht“, bestetigte ich. „Nietzsche beendete sein literarisches Werk nicht. Seine Nachfahren führten seine Gedanken und Worte nicht zu Ende (sondern verfälschten höchstens dies und das), auch die Nietzschianer nicht. Wie kommst du aber darauf?“
„Das ist eine witzige Geschichte! Ich war - nicht hatte, merkt ihr? - heute endlich mal frei und ging in ein Antiquariat zu ’m Stöbern. Dort ist ein schöner Laden in der Osterstraße, wisst ihr? Nun, in dem Laden begeg’nete mir eine Commilitonin meiner Tochter, die mit ihr gemeinsamm Philosophie studiert, die ich noch nicht kannte. Und diese Studentin hielt zu meinem Erstaunen einen ganzen Stapel Nietzschebücher in den Armen. Studentinnen und Nietzsche, das passt zusammen wie  Bergedorfer Bockwürste und militante Vegetarier, nicht? Aber noch besser passt ihr persönlicher Name zu ’m Studium der Nietzsche-Literatur.“
Um uns zu spannen, sprach Werner nicht fürder, sodass erst Jemand fragen musste. Als mir dies auffiel, übernahm Jan denn die uns allgemein zugedachte Rolle und fragte folgsamm: „Wie ist denn ihr Name?“
„Sarah Tusstrer.“
„Zarathustra? So namt eines seiner Bücher: „Allso sprach Zarathustra“! Aber das ist doch wohl nicht der Name der Studentin? Oder ist sie etwa persischer Herkunft?“
„Du hörtest mir nicht richtig zu, Jan. Die junge Frau namt nicht Zarathustra, sondern Sarah Tusstrer. Aber mir ging es zunächst so, wie dir. Und so verdachte ich, sie wolle mich veräppeln und widersprach ihr, dass der genannte Name der eines Buchtitels sei. Sie aber grinste und zeigte mir ihren Studentenausweis, woraufhin ich staunte, lachte und bemerkte, dass sie wohl meine Tochter kenne, was sie bejate. Wir kamen gut in ’s Gespräch und ich fragte sie, was sie an dem Weiberhasser Nietzsche finde. Sie erklärte mir, dass er ja nur den Typus weiblicher Menschen habe kennen können, der im neunzehnten Jahrhundert mit ihm lebte, und der sei zumeist unselbständig und noch nicht emancipiert gewesen.“
„Sie meinte darmit, Nietzsche sei kein Frauenfeind gewesen?“
„Moment, Jan, Moment! Dies modische Schlagwort ‚Frauenfeind’ ist ungeheuer, denn es tut so, als seien dar Frauen, denen ein Jemand Feind sei, obwohl dieser vielleicht nur den Namen ‚Weib’ gebrauchte. Das allein genügt schon, dass ein durchschnittlicher weiblicher Mensch sich als ‚frauenfeindlich’ benamt oder besprochen oder angeredet erachtet.“
„Jo, Hans. So sehen die meisten Weiber das.“, grinste Werner.
„Aber sie sehen es fälschlich! Lasst uns zuerst überlegen, was das Gegenteil des Namens ‚männlich’ ist?“
„Na, ’weiblich’.“
„Jo. Und das des Männchens?“
„Das Weibchen.“
„Und das des Herrchens?“
„Das Frauchen.“
„Und als ‚Herr’ und ‚Frau’ reden wir sie an, wenn wir höflich sind. Alles logisch, nicht?“
„Jo, Hans. Und jetzt aber kommt ’s?“
„Genau, Jan! jetzt kommt ’s! Nach alledem ist das Gegenteil des Mannes: -- das Weib! Logisch?“
„Oho! Gut, dass gerade keine Frauen zuhören!“
„Ja, aber das ist ja gerade der Witz, Werner! Die Weiber müssen erst beweisen, dass sie Frauen sind, so wie auch jeder Mann, der von seinen Zeitgenossen verlangt ‚Herr’ genannt zu werden, erst beweisen muss, dass er ein Herr ist. Aber statt dies zu beweisen, nennt er dich ‚herrenfeindlich’, weil du ihn ‚Mann’ nanntest. Merkt ihr? Das steckt hinter der Anklage ‚frauenfeindlich’. Die ‚Frau’ aber ist verwandt mit ‚Fron’ und nennt ursprünglich die ‚Fronherrin’, zumindest aber die „Herrin“ oder einen sittlich oder cultürlich „hochstehenden weiblichen Menschen“. Wenn aber ein Weib dir einzureden sucht, du seiest ein Mann und sie sei die Frau, dann ist das so, als versuche sie dir aufzuschwatzen, du seiest ein Männchen und sie sei das Frauchen. Bemerkst du den Ebenenunterschied? Wenn ihr das gelänge, dann träfe es wohl zu, denn nach der deiner Belehrung durch sie dächtest du ja, sie sei die Frau und du nur der Mann. Darmit stände sie über dir und wäre allso deine Herrin. Das kann weib ja mal versuchen, nicht? Ich bin allso nicht jedes Falles gegen das weibliche Lager, jedoch alle Weiber über einen und selben Frauenkamm zu kämmen, finde ich genau so unangemessen, ungerecht, überzogen und alogisch, wie alle Männer über einen und selben Herrenkamm zu scheren.“
„Nietzsche hätte seine Freude an dir empfunden, Hans! Und vielleicht auch die Sarah Tusstrer, die trotz ihrer Jugend schon eindeutig eine Frau ist. Sie nahm es ja auch ihrem Nietzsche nicht übel, dass er und wie er über die Weiber geschrieben. Zu bedenken gab sie mir die Textstelle, in der Nietzsche sagte, allzu lange sei im Weibe ein Sklave und ein Tyrann zug’leich versteckt gewesen, weshalb es noch nicht zu ’r Freundschafft fähig sei, denn bist du Sklave, kannst du kein Freund seien, und bist du Tyrann, kannst dir keiner Freund seien. Aber es folgt der Bemerkung, das Weib sei (anno 1883, nota bene!) noch nicht zu ’r Freundschafft fähig, unmittelbar die Frage: „Aber sagt mir, ihr Männer, wer von euch ist denn fähig der Freundschafft?“ Jedes Falles sei dieser Nietzsche ein ehrlicher Charakter gewesen. Er habe zwar voreiliger und oberflächlicher Weise das Christentum mit der Kirche, wie er sie sah und deutete, g’leichgesetzt, und das verzerrte Christusbild jener Zeit als vermeintlich eigenständiges Christ-Obiectum getadelt, als er seine Christusgegenfigur „Zarathustra“ schrieb, dessen Buch er als „Das Fünfte Evangelium“ erachtete, weil er, wie er vermeinte, darmit eine wahrhaftig „Frohe Botschafft“ den Menschen geboten habe. Er schrieb, mit dem „Zarathustra“ der Menschheit das größte Geschenk gemacht zu haben, das ihr bis „her“ (1885, nach Erscheinen des vierten Teiles) gemacht worden sei. Und er wertete, dies Buch sei im Gegensatze zu den ihm geläufigen Evangeliumsschriften des ‚Neuen Testamentes’ eine frohe Botschafft, weil sie nämlich der Lebensbejaung und nicht dessen Unterdrückung diene. Dass Nietzsche dies Leben nur als „irdisches Leben“ ohne jene Seite des Fürderlebens auffasste, ist ja wohl klar. Das Christentum erachtete er als das Mitleiden mit allen Missratenen und Schwachen, …“
Hier wäre Hans gern eingefallen, denn er blickte wichtig darein, hob seinen Zeigefinger und gab Lautansätze von sich, aber Werner blieb hart und fuhr fort: „… wobei das Mitleiden eine Schwäche sei und dem Leben die Kraft raube und die Praxis des Nihilismus sei, denn Mitleiden überrede zu ’m Nichts, das man nur mit Namen wie ‚Jenseits’ oder gar ‚Erlösung’ bedecke und so die lebensfeindliche Tendenz verberge! Und inwieweit die Kirchen und die ihr gehorchenden Buchstabenchristen das als „Leben“ gedeutete In-der-Welt-Seien moralinsauer unterminieren, anstatt es im geistlichen Sinne zu predigen und zu fördern, mögen wir uns fragen. Übertragen auf unsere Zeit fiel ihr, der Sarah, der große Missbrauchsskandal ein, und sie erzählte mir ausführlich, wie sie mitbekommen habe, dass jüngst eine evangelische Bischöfin in Nordelbien zurückgetreten sei, weil ihr vorgeworfen ward, sie habe einen Pfarrer gedeckt oder zumindest nicht schärflich genug verfolgt, der Kinder missbraucht habe. Man habe ihre G’laubwürdigheit angezweifelt und so könne sie das Evangelium nicht verkünden, habe diese Bischöfin als Grund für ihren Rücktritt angegeben. Ja, fragte Sarah, was das denn sei? Ob Solches möglich sei? Und sie beschimpfte diese Ex-Bischöfin zu meinem Vergenügen als Heuch’lerin! Kaum, dass es ernst werde, verließen die Ratten das Floß des bequemen geistarmen Mitströmens!“
„Dass dir als Atheisten das gefiel, kann ich mir wohl denken. Aber wieso empörte sich diese Sarah der Art?“, fragte Jan. „Ich meinerseits hörte die Nachricht dieses Rücktrittes in den Nachrichten und fand ihn als Zeichen gegen den Missbrauch gut. Was störte sie denn daran?“
Darauf sprach Hans: „Darzu will ich euch ein Gleichniss erzählen, Freunde!

„Ein Prophet der Unschuld zog mit seinen Jüngern durch das Land und predigte über all(en Orten) Liebe, Vergebung und Heilung. In einem Dorfe ward einer seiner Jünger ergriffen, als er in einem Schuppen ein minderjähriges Mädchen unsittlich berührte. Man verklagte den Jünger, verurteilte ihn und sperrte ihn ein. Dem Propheten aber warf man empört anklagend vor, er sei ein fieser Heuchelmann, denn er predige Unschuld, Frieden und Heil, um die Leute in Sicherheit zu wiegen, derweil seine Jünger heillose Sittenstrolche seien, die sich wider das Gesetz verhielten und allso schuldig würden. Daraufhin sagte der Prophet des Heiles und der Unschuld sich von seinem unheiligen, schuldigen Jünger entsetzt los, verurteilte ihn öffentlich und floh über die Berge in fremdes Land, um nicht länger als schändlicher Heuchelprediger beschimpft zu werden.
Seine üb’rigen Jünger blieben ratlos zurück und fragten sich untereinander: „War seine Rede nur hohler Schall? Er sprach doch von Vergebung und Heilung für die, welche heillos in Schuld wohnten, weil sie nur in der vergänglichen Welt unheilig und schuldig, in der unvergänglichen Wahrheit aber heilig und unschuldig seien! Wieso hält er denn den Vorwurf des Unheiles und der Schuld von denen nicht aus, die seine Lehre noch nicht kennen und nicht verstehen?“
Die Leute aber freuten sich und sprachen bei sich: „Wie gut, dass er von uns nun nicht mehr verlangt, den Gesetzesbrechern zu vergeben. Dies war doch eine übele Zumutung! Wie hätten wir in der vergänglichen Welt so ungestört g’lücklich werden können?“
Einer unter ihnen aber widersprach ihnen: „Sehet aber! Ihr könnt in der vergänglichen Welt überhaupt nicht selig werden, weil trotz Befolgung des Gesetzes immer ein Vergehen der Welt zufällt und die Dinge zerstört, an die euer Herz ihr gehängt habt. Der Prophet aber predigte uns doch nicht, das Gesetz einzuhalten, wie es die Gesetzeshüter verlangen. Er sagte zwar, des Gesetzes solle nichts aufgelöst werden, kein Jod und kein Tüttelchen, aber des Gesetzes Sinn müsse noch erfüllt werden. Dieser noch zu erfüllende Sinn des Gesetzes sei die Unschuld. Und er predigte deshalb, nämlich des Sinnerfüllens halber, auch denen zu vergeben, die das Gesetz nicht einhalten, weil erst durch Vergebung die höhere Unschuld erkannt werde.“
Da riefen sie zu ihm: „Bist du etwa auch einer von jenen Heuchelmännern? Komme uns nicht mit Unschuld, denn wir g’lauben nun mal an die Wahrheit dieser vergänglichen Welt! Wie kann sie nicht wahr seien, die wir riechen, schmecken, hören, sehen, fühlen? Willst du sagen, wir träumten dies nur? Wer uns diese Wahrheit zerstört, der ist schuldig, weil er das Einzige zerstört, das wir haben! Und diese Schuld ist zudem gesetzeskräftig bewiesen. Den Geist der Unschuld können wir hier nicht brauchen. Was brächte uns Vergebung? Mit ihr verlören wir ja unsere Welt! Das wäre etwas nur für die Versager, die kein Geld und keine Kinder haben und es zu nichts gebracht, mithin nichts zu verlieren haben, wenn sie vergeben.“
Und der Himmel verdüsterte sich in dichtes Grau und blieb für sie in unerreichbarer Ferne. War „der liebe Herr Jesus“ etwa vergebens für diese Leute am Kreuze gestorben? Waren sie aus ihrem Egoismus etwa geheilt worden, wenn sie zwar aus ihrer Schuld vor Gott erlöst waren, jedoch auch fürderhin bedenkenlos Schuld ihrem Nächsten zuwiesen, anstatt dankbar für ihre Erlöstheit auch diesen aus der Schuld zu erlösen? War dies nicht in liebesgeistlosem Weltg’lauben die Fortsetzung der Sünde und somit der Schuld? Wie mag ein Kranker gesund sich denken und nennen, der seine Geschwister mit dieser Krankheit ungeniert ansteckt?“

Und nun frage ich Euch, Freunde: War dieser Prophet denn ein Lügenkünder? Es war seine Pflicht und sein Beruf, die Unschuld gerade im Moment der Krisis durch das begangene Verbrechen zu bekunden und zu erklären! Statt dessen widerrief er ja geradezu seine Lehre aus Angst vor weltlich-gottloser Schuldzuweisung und Strafverfolgung und floh über alle Berge! Das ist das Christentum dieser Zeit! Ich kann die Empörung dieser Sarah durchaus nachempfinden.“
„Auch ich!“, pflichtete Werner bei. „Und solche Christen kann man doch ruhig verachten, finde ich. Und das tat denn auch die Sarah. Sie sagte, dar lobte sie sich den Nietzsche, denn dessen „Zarathustra“ predigte Verachtung. Dies war sein wenn auch unbewusster Ersatz für christliche Vergebung, wohlgemerkt! Aber diese Verachtung fand sie ehrlicher als das verlogene Vergebungsgerede der an die Wahrheit der Schuld g’laubenden und rückhaltlos einknickenden G’laubenswürstchen, die sich ‚Christen’ nennen, ohne zu wissen, was der CHRISTUS ist. Das waren original ihre Worte!
Allso sprach Sarah Tusstrer.“
„Jo, Werner! Das ist ja man ein starker Tobac, was du uns genüsslich erzählst. Aber die Studentin, das muss ich sagen,  hat ja echte Classe!“
„Eindeutig! Aber was sagst du denn zu diesem G’leichnisse aus Hansens Munde?“
„Ich finde, dass es zwar hart, aber trefflich erzählt ward. Das heuerige Volkschristentum ist eine Farce. Die vermeintlich g’läubigen „Christen“ g’lauben vielleicht an „den lieben Herrn Jesus“, aber nicht an den Christus als den Garanten der Unschuld trotz jeder legistisch oder iuristisch erwiesenen Schuld. Das ist letztlich eine Folge cultureller Degeneration und verfehlter Bildungspolitik, die das Dummbleiben auf der Ebene des Geistes nicht schlimm, sondern gut findet, weil es politisch leichter auszubeuten ist.“
„Na, ja.“, warf ich bedächtig ein. „Wie schnell von gewohnheitlichen Schuldzuweisern die Schuldigen gefunden werden, ist immer wieder erstaunlich. Wie wünschen, die Schuld nicht zugewiesen zu bekommen; wir winden uns vor ihr und hassen sie und scheinen es doch zu lieben, sie unserem Nächsten tagtäglich leichthin vorzuwerfen.“
„Genau! Und mir scheint, dass Nietzsche eigentlich nicht primär einen echten Christen hasste, dem er vermutlich nie begeg’nete, sondern die Schuld hasste, die ihm von den vermeintlich christlichen Menschen zugewiesen ward, die er kannte, besonders von den drei bigotten Weibern seines Älternhauses, nachdem sein leiblicher Vater gestorben war. Aber in der Schuldvermeidung ward er seinerseits zu ’m Schuldzuweiser. Und genau dies ist das eigentlich Unchristliche in seinen Schriften, nicht die Kritik am Christentume, die zumeist nur Tadel an unbeg’nadeten Christenheuch’lern und oberflächlichen Christmissverständigen war.“
„Und bemerktet ihr, in welchem Zorne Nietzsche wider das nach seiner Ansicht von Christen geforderte Mitleiden wetterte, das doch nicht christlich ist?“
„Ach? Ist es das nicht? Ich dachte immer, es sei doch gerade dies!“, staunte Werner.
„Viele Umgangssprecher und Umgangsdenker verwechseln Mitleid mit Erbarmen. Der Mitleidende aber g’laubt an die Wahrheit des Leides, mit deren Trägern er dann mitleidet. Der Christus aber ist die Wahrheit und als die Auferstehung und das Leben ist ER die Erlösung aus dem Leiden. So kann der Christ mit den Leidenden - das versuchte ich vorhin einzuwenden, als Werner mich nicht ließ! - nicht mitleiden, denn das wäre wie ein mit den Siechen hilflos mitsiechender Arzt, sondern er erbarmt sich ihrer, indem er sie in ihrem Leiden nicht allein lässt. Aber er hilft ihnen tiefst, wenn er das Leiden nicht als obiectiv wahrhaftig mit den Leidenden tränenreich teilt, sondern wenn er seine Gewissheit über der Leiden Unwahrheit mit den Leidenden liebevoll teilt und mit der Wahrheit des Heiles ersetzt. Und all dies erschloss Friedrich Nietzsche in seiner Zeit nicht. Er versuchte, über das Mitleid unchristlich zu triumphieren, und gelangte so zu einer harten Erbarmungslosigheit, vor der ihm unbewissentlich graute. So war er von seinem irren „Zarathustra“ so eingenommen, dass nach eigenem Bekunden Folgendes geschah: ‚Wenn ich einen Blick in meinen Zarathustra geworfen habe, gehe ich eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen unerträglichen Krampf von Schluchzen Herr zu werden.’ Ja, was mag der Grund dieses Krampfes gewesen seien? Doch wohl kaum die Freude ob eines so geist- und hoff’nungsvollen Buches, nicht? Es war zwar sprachlich nicht unschön, jedoch nicht geistvoll, weil ohne Liebe. Ich sehe dort in dem Krampfe in dem einsammen Zimmer einen bitterlich Suchenden, der den ihm gebotenen Heilsweg ablehnt, weil die ihm diesen Weg bietenden Dummköpfe, Heuch’ler und Irren den Weg verzerrten und ihrerseits nicht kannten. Aber er construierte sich eine Alternative, die letztlich genauso trostlos war, und er g’laubte - sich überhebend - an sie als sei sie ein Euaggelion oder Evangelium. Dieser Mann suchte kämpfend, aus dem Zuchthause seines Gewissens zu entkommen, mit dessen Stimmen er nicht einverstanden war. Die Erbauer dieses Knastes waren pseudochristliche alte Weiber gewesen, die den Christus nicht verstanden hatten, sondern eine verfälschte, entgeistete Lehre Christi prüflos auswendig gelernt hatten und seit dem wähnten, das sei die Wahrheit. So versuchte Nietzsche, das Gefängniss nieder zu reißen, indem er diese Erbauerinnen in vernichtender Kritik gedanklich entthronte. Zug’leich aber begehrte er die Zustimmung dieses bekämpften Lagers, und zwar insofern, als er sich mit einem Weibe zu vermählen begehrte. Weil zu dieser Verbindung jedoch kein Weib bereit war, verschärfte dies Nietzsches böse Worte wider die Weiber pauschal. Er stand am Rande der Verzweifelung oder aber des Ausbruches seines Irrsinnes als des fortan bestehenden Normalzustandes. Die Umwertung aller Werte bezeich’net uns den ganzen Weg Nietzsches des Leidens und Irrens, denn er legt dar, dass er zunächst die seinerzeit geltenden Werte kannte und als falsch analysierte. So weit, so gut. Aber er drang nicht so tief, dass er das Werten als die dualistische Quelle des ichigen Übels bemerkte, sondern er hielt auf halbem Wege an und verdachte, das Werten sei nicht per se etwas Ungutes, sondern es sei dann etwas Gesundes, wenn die aus ihm entstehenden Werte gesund seien. So aber, wertend bleibend, kam er nie am „Jenseits von gut und böse“ an, sondern blieb als „Der Antichrist“ entschieden diesseits, denn er wertete das vermeintliche Christentum als „böse“. Als spiritueller Christ wäre er auf jene Seite, allso in das Jenseits der Wertung ‚gut – bös gelangt, aber er vermochte Keiner zu werden, weil er Keinen kannte, dem er dorthin hätte folgen können. In der allso nur versuchsweisen durch ihn ge-schehenden Umwertung der Werte als Versuch des eigenen Weges fand er aber keine Heilung und keine Gesundheit, sondern egoistischen Materialismus; und diesen erachte ich als eben so krank wie den dümmlich heuch’lerischen Jesuanismus, in dem eine Person zu ’r Superperson wundersamm exaltiert wird, womit aber der Christus masciert, despiritualisiert und verkannt wird. Unserem gestorbenen Wegesgefährten Nietzsche aber gebührt unser mitleidloses Mitempfinden, weil er immerhin des guten Mutes war, als Bekenner ohne Heer den bewaff’neten Massen der dümmlich bigotten Heuch’lerei schriftlich entgegen zu treten.“
„Das finde ich gut! Lasst uns auf unseren ung’lücklich irrenden Wegesgefährten Nietzsche gedenkend anstoßen, Freunde!“, sprach Hans.
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.

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