Sonntag, 11. November 2012

15. Im Anfang war der Wert

15. Im Anfang war der Wert



„Wisst ihr, Freunde, dass aller Dualismus in uns mit der Erdeutung des Wertes beginnt?“, fragte Hans uns eines ruhigen Abendes.
„Nein. Wieso darmit? Wieso nicht etwa mit der Entdeckung der Getrenntheit zwischen Körper und Außenwelt?“
„Aber, Werner! Das besprachen wir dieser Tage doch schon. Die Getrenntheit ist doch eben’ Falles nur eine Deutung.“
„Jo, aber wenn der Dualismus schon mit einer Deutung beginnt, wieso beginnt er denn nicht mit der Deutung der Getrenntheit zwischen mir und der Welt oder zwischen oben und unten?“
„Na, ja, gut! Aber die Getrenntheit wessen meinst du genau, Werner? Die Trenne zwischen je „meinem“ Körper und Nichtkörper alias ‚Außenwelt’ ist zu grob materiell gedacht, allso übermäßig plump und der Seele nichts sagend, weil beide Größen für nichts zu Erkennendes stehen, das geistlich seien muss, um erkannt zu werden. Die Seele ist, oder sagen wir besser: deuten wir poetisch als ein Fünklein der ewigen Liebe. Nun wird sie in Zeugung und Geburt eingefleischt und verliert so die übersinnliche Erkennungsmöglichheit der geistlichen Liebe, die im Fleische und durch die Sinne des Fleisches, allso des bewegten Körpers, nicht erkannt wird, das nur vernehmen kann respective die nur vernehmen können. So wird ein Ersatz für die unerkenntliche Liebe gesucht und in dem Werte gefunden. Auch den kann die Seele nicht vernehmen, weil er kein eigenständiger Teil der Außenwelt ist und sie ihn allso auch nicht kennentlich herzuleiten vermag; sie mag ihn jedoch erdeuten. Sie „weiß“ (obwohl ja auch das wohl nur eine poetische Deutung ist), dass sie nun eingefleischt ist, allso deutet sie sich mit dem sie umgebenden und sie scheinbar tragenden Fleische als selbig. Weil sie der Herkunft und Wahrheit nach Liebe, allso Geistliches ist, wird das Fleisch, das sie nun zu seien scheint, allso etwas Ungeistliches, als Ersatz für das Geistliche, nun der Ersatz für die Liebe und dieser ist der Wert. So wird statt der Seele als lieblich nun das mit dem Körper beselbigte Ich als wertvoll erachtet. Dies erdeutete Körper-Ich ist die Wertgrundlage. Diese ist zumeist in sich zerspaltet, aber das soll uns jetzt noch nicht angehen. Auf dieser Grundlage jedes Falles bauen alle Wertungen auf, die die Außenwelt betreffen. So stehen zwei Größen einander gegenüber: Die eine Größe ist der von der Seele bewegte eigene Körper, mit dem sie sich als Ich deutet; er steht als der Grundwert und somit als der Maßstab für alles Andere. Die andere Größe ist dies, wenn sie dem ersten, dem Hauptwerte dient. Tut sie das nicht, steht sie für das Gegenteil des Wertes, nämlich die Schuld.“
„Oh, ja, Hans! Das ist ein elfenbeintürmlich schönes Denkmodell. Aber woher weißt du darbei, dass die Größe ‚Außenwelt’ überhaupt schon zwischen ‚wertvoll’ und ‚schuldig’ getrennt wird?“
„Dies ist die erste Erfahrung der Körpers. Dieser bedarf ja Wärme, Wasser, Speise, Umarmung, und wenn das ausbleibt oder - schlimmer gar - durch Kälte, Durst, Hunger, Unumarmtheit ersetzt wird, welche Angst eröff’nen, dann ist diese Erfahrung die Getrenntheit zwischen „gut und bös“, allso der Dualismus der Welt, aber als Wertung, welche eine Deutung ist. Der Dualismus ist allso mittels des Maßstabes des fühlenden Körpers ermessen worden. Aber so wenig der Körper wahr ist, mag der durch ihn ermessene Dualismus wahr seien. Wie dem aber auch sei, gilt der eine Pol des Dualismus als „gut“ oder „Wert“, der Gegenpol jedoch als „bös“ oder „Schuld“ oder „Widerwert“. Zwischen diesen Polen werden alle Kämpfe unseres Gemütes ausgetragen, indem zu Werte gestrebt und wider Schuld gefürchtet wird. Bedenkt an euch, Freunde: Das in-stabile Ebengewicht zwischen Wert und Schuld soll dennoch gehalten werden. Darzu werden Lust, Gewinn, Sieg, Wertschätzung oder gar Werthuldigung bedurft und Unlust, Verlust, Niederlage, Wertmissachtung oder gar Wertschmähung gemieden, bekämpft oder gar gehasst. Aber der Wert oder die Wertung ist die Grundlage der Deutungszweiheit, in der wir gedanklich wohnen. Zugleich ist diese der Beginn unserer bewussten Welt. Es gilt allso: Im Anfange war der Wert.“
„Aber es steht doch geschrieben: ‚Im Anfange war das Wort’ und nicht der Wert!“, gab Jan zu bedenken. „Wie passt das denn dar hinzu?“
„Das Wort war nicht das Wort, weil es darmales, am ersten Anfange der von Menschen erdeuteten Welt, noch keines war, doch eher ein Zeichen, das für etwas Anderes gedeutet ward, oder später ein Nennendes, der Name, mittels dessen das einzeln gedeutete Seiende genannt werden mochte. Wer es zu nennen wusste, der galt ihm als übertan. Wie im Märchen des Rumpelstilzchens. Durch Kenntniss seines Namens gewann die Princessin Gewalt über den Kobold und verlor dieser seinen Zauber. Rückübertragen zu alten Zeiten eröff’net uns dies, dass unsere Vorfahren den Namen und dessen Kunde als zauberige „Macht“ deuteten und empfanden. Der Gottesvorstellung, der sie huldigten, unterstellten sie stets eine noch höhere oder die höchste Macht, allso auch die vollendete Namenkunde. Somit dachten sie sich, der Mächtige müsse mit den Namen mächtig zu seien begonnen haben, obwohl nicht klar ist, was sie sich zu Namen ‚Macht’ hinzudachten, denn was mochte diese Macht? Mit ihr mochte das erträumte „Leben“ beginnen, das jedoch nur ein erträumtes Leben, weil ohne Geist war. Dies erträumte Leben war, dass zu dem Namen etwas hinzugedacht werden mochte, allso etwa, dass ein Spiegel nicht einfach ein Ding, sondern ein Antlitzöff’ner sei, dessen Eige (statt Besitz, denn auf ihm war und ist nicht wohl zu sitzen) eine besondere Macht bedeute, weil ja nicht Jeder sich sein eigenes Antlitz öff’nen möge. Oder etwa, dass die Eige oder das Eig’nen eines Greifvogels „Macht“ bedeute, weil der ja fliegen kann und ein Bewohner des Himmels ist und allso götterähnlich ist. Oder etwa, dass jemand ein wildes Pferd zähmt, welches im Zuge seiner Zähmung einen Namen erlernt, mit dem es gerufen wird, und dem es gehorcht. Der Meister des Namens ist der Meister des Benannten. Und umgekehrt galt: ’Nomines non sapere est res non cognoscere.’ (= “Die Namen nicht zu wissen, ist: die Dinge nicht zu kennen.“) Solches Denken erklärt denn auch das Erfinden des Fluchens: „Dich soll der Teufel holen!“ Der Solches straflos ausspricht, scheint des Teufels Meister, dass er ihn heiße, seine Feinde zu holen. Und nun denkt euch, der so Verfluchte sterbe anschließend vor Angst: In welchem Ansehen stände dann der Fluchende? In dem der „Macht“, obwohl das keine Macht ist, sondern Wahn.“
„Und wie kam das Wort in den oben genannten Satz der Bibel?“
„Diese Lehre, dass am Anfange das „Wort“ war, steht zwar zu Beginne der heutigen deutschen Evangeliumsschrift nach Johannes (auf Hellenisch steht dar: „En archä än ho logos“, wenn ich ein ‚ä’ für ein ‚eta’ setze, um es dem ‚epsilon’ = ‚e’ zu unterscheiden), stammt aber gedanklich eher von Philo Judaeus, allso dem „Philon von Alexandrien“, einem jüdischen Gelehrten, der mit Jesus alias Jeschua Ben Joseph wohl nicht bekannt war. Dieser Philon, der zwar Jude war, jedoch kaum Hebräisch schrieb, lehrte in hellenischer Sprache, dass der ‚Logos’ der Aspect Gottes sei, der in Beziehung zu ’m erschaffenen Kosmos stehe, und ward von Philon gelegentlich als „deuteros Theos“, als „zweiter Gott“ geführt.
Das hebräische ‚Dawar’ (der Name für ein Anliegen, eine Sache oder der in einer Aussage genannte Gegenstand oder das in der Rede enthaltene Geschehniss oder deren Inhalt, und allso für das, was zu einem Namen hinzugedacht wird) ist kaum der Gegenstand der Philologie. Es entsprach und entspricht  nicht „flächendeckend“ dem hellenischen ‚Logos’, mittels dessen es zwar gemeinhin lexikonistisch übersetzt wird, das jedoch eher als das „buchstäbliche Wort“, die Rede, die Kunde, die Lehre zu denken ist.
Was die Schreiber der „Evangeliumsschrift nach Johannes“ dachten, als sie den ersten Vers („Im Anfang war das Wort“) niederschrieben, wissen wir nicht. Eine formale Anlehnung an den ersten Vers des Buches „Genesis“ vollzogen sie jedes Falles: „Im Anfang …“. Aber welche Art Anfang sie meinten, bleibt unklar. Gedachten sie die Entstehung des hellenisch gedachten Kosmos durch den eben so hellenisch gedachten Logos? Das wäre eine kaum g’laubwürdige Magie, wie wenn nur ein Wortkundiger: „Mutabor!“ spräche, und die Stoffe in ihrer Gestaltung solchem Klingworte gehorsämmlich folgten!
Wie dem aber auch sei, der Name als der Nennende ist ja tatsächlich der Baustoff unseres Weltdeutungsgefüges, das sprachlich, allso namentlich gefügt wird und worden ist. Aber jedes Kind spricht doch erst dann seine ersten Worte, wenn es schon mindestens zwei Jahre alt geworden ist. Aber es wertet schon früher, ob bewissentlich oder nicht, bleibt offen. Es jammert und weint, wenn es Schmerzen fühlt, aber es prustet vor Vergenügen, wenn es sich wohl fühlt. Das verrät Wertung, und zwar vorrangig am Maßstabe des Körpers, wenn auch nur im ungesprochenen „Gespräche“ mit Bezugsmenschen, mittels Mienen, Lauten, Umarmungen. Und so ward auch in der Entwickelung des Menschengeschlechts erst gewertet, und dann genannt.
Das Gewertete ward mit Namen er- und begriffen und gefügt. Genannt aber ward nur in der gewerteten Außenwelt, innen nur kaum oder gar nicht! Will sagen, zwar die Dinge warden genannt, nicht jedoch die tieferen Regungen des Deutens, Wertens, Empfindens, Begehrens. Wie denn auch jedes Kind spricht, dass es etwa darunter leide, das gewünschte Eis nicht zu bekommen, und nie sagen wird, es leide an der Unerfülltheit seines eit’len Wünschens. Alles Geschehen wird nach „außen“ gewendet, auch sprachlich nennentlich.“
„Und wie passt all das von dir Gesagte mit der Lehre Sigmund Freuds zusammen? Du stellst den wertenden Dualismus in seiner Gründung dar; wie lassen sich aber Ego, Super-Ego und Id (sic! ‚Es’ ist auf Latein ‚id’) oder anders gesagt, das Ich, das Über-Ich und das Es einbringen?“
„Der Ansatz Freuds ist anders denn meiner. Er ließ für sein Instanzenmodell den Dualismus als Denkung und als Grundlage der Denkwelt gänzlich unbeachtet und erachtete ihn als tatsächliche Beschaffenheit der obiectiv „wahren Welt“, die er trotz seiner Kenntnisse über ihre Verzerrungen durch kranke In-Wahr-Nehmung unbezweifelt als wahr beg’laubte. Statt den Dualismus zu analysieren, situierte er im Menschen drei „Instanzen“, wie sie sich ihm in seiner Praxis als Arzt zeigten, und zwar insofern, als die Störungen, an denen seine Patienten litten, stets Probleme zwischen den Richtungsversuchen, die Freud ‚Triebe’ nannte, (in zwei Gruppen gefasst, nämlich Ichtriebe und die Sexualtriebe) und der sie zu controllieren suchenden Moral, allso zwischen Es und Über-Ich aufwiesen, wobei das Ich als armsälige Restinstanz sozusagen üb’rig blieb. Das würde ein Freudianer so allerdings nicht sagen und mir hier entschieden widersprechen. Nun finde ich aber erstens die Trennung zwischen Ich und Über-Ich nicht genügend plausibel und zweitens das Es als übermäßige Vereinheitlichung alles dessen, das nicht in die beiden anderen Instanzen passt. Zu erstens will ich kürzlich nennen, dass das Ich ja - ihr erinnert? - eine Erfindung ist, oder ein Entwurf, an den wir g’lauben. Dem widerspräche Freud vermutlich nicht, wenn er meine Begründung noch zu vernehmen bekäme, denn auch er schon erachtete die Annahme als notwendig, dass „eine dem Ich vergleichbare Einheit nicht von Anfang an im Individuum“ anwesend sei. Das Ich müsse entwickelt werden. Nur sagte er nicht darmit ausdrücklich, dass das Ich eine Erfindung sei.“
„Und er wäre dennoch nicht mir dir einverstanden, Hans. Dein Wort ‚Erfindung’ klingt mir (und klänge wohl auch ihm) nach Erfindern, die entweder etwas bewissentlich zu construieren suchen und einen Weg darzu finden wie etwa Rudolf Diesel den nach ihm benannten Verbrennungsmotor erfand, oder nach solchen Leuten, die zufällig findend auf etwas stoßen, das nützlich ist, wie etwa Johann Friedrich Böttger, der im Auftrage Augusts des Starken nämlich Gold herzustellen versuchte und darbei immerhin das Jaspis-Porcellan erfand, welches eigentlich ‚Böttgersteinzeug’ namt. Nun frage ich dich, wie Freud deine ‚Erfindung’ des Ichs als eine Solche hätte ansehen mögen, wenn kein Erfinder als ihr Grund zu nennen war? Wer oder was erfindet denn das Ich? Was ist denn schon dort, das etwen oder etwas erfinden kann?“
„Ja, ein Wer ist dar nicht; das ist klar. Ein Was aber schon. Und dies Was ist kein Klares, sondern eine Anlage, die, poetisch gesprochen, eine Baurichtung vorgiebt, der die poetische gesprochen: natürlichen Bauknechte folgen. Anders, nämlich materialistisch gesagt, wird nach dem Erbgute, allso den Genen, das Gehirn aufgebaut und mit ihm die Leistungsweisen alias ‚Functionen’, die zu ’r Vernehmung und Verrech’nung der als außerhalb unseres Körpers gedeuteten „Außenwelt“ erforderlich sind. Und diese Anlage liegt dort nicht einfach und tatenlos an, sondern sie ist oder in ihr ist etwas am Werke. Nennen wir dies den Ichgrund. Dieser Grund ist nicht causal, sondern genealogisch wie ein Acker zu deuten, auf dem das ich wie Getreide erwächst. Aber eine Erfindung ist das Ich dennoch, wenn auch keine eines Ingenieurs oder des Ichgrundes. Es ist gewisser Maßen eine poetische Erfindung, die von zwei dunk’len, diabolischen Dichtern gemacht wird, nämlich erstens von dem Poeten, der uns satanisch vorgaukelt, unser Ich sei ein Schatz, unser Begehr sei die große Liebe und er, der satanische Dichter, sei unser machtvoller, guter Schatzmeister. Und zweitens von dem grauen Dutzendpoeten, der in unseren Ältern und Altvorderen uns die Ammenmärchen erzählte und auswendig zu lernen von uns verlangte. Die größten Teile dieser wehen Erfindung „Ich“ stammen allso von diesen poetisch uns Namen gebenden, jedoch im wissenschafftlichen Sinne unwissenden Mit-menschen, die uns zugleich sagten, wie „Ich“ sich zu verhalten und zu seien habe. Das verdeutlicht uns, dass die Namen „Ich“ wie „Über-Ich“ und „Es“ jeweils Vorgaben seitens der uns in der Entwickelung bestimmenden Mitmenschen nennen. Hinzudenken mögen wir uns, dass diese drei Aspecte in all den Vormenschen g’leicher Maßen gegeben, allso der Herkunft nach, selbig sind. Das Über-Ich (oder das „Gewissen“ im Sinne der lateinisch moralischen ‚conscientia’) ist allso ein Teil der Ich-Erfindung, wenn auch mit anderen Obiecten als Vertretern oder Repräsentanzen besetzt, nämlich denen, die dem Gewissen ihre körperliche Stimme gaben. Hingegen zu zweitens kürzlich zu sagen ist, dass auch das Es ein Bestimmendes des entwickelt werdenden Iches ist, will sagen, die Bestimmung des werdenden Iches durch die Ältern, Geschwister  und Lehrer geschieht an Etwas, das nicht an sich dar ist, sondern aus dem kommt, das nach Freud im Es enthalten sei oder aus dem Es herkomme oder mit ihm selbig sei. Das impliciert, dass auch das Es ein Ich-Anteil ist, der nicht jedes Falles als Opponent des Iches wirkt. Oder das Ich ist eigentlich das Es, das schon etwas Cultur der Relativierung des natürlichen Egoismus’ des Es erlernt hat (obwohl das Id ja nicht das Ego ist, verhält es sich aber wie das Ego!). Aber die Seele und mit ihr die Herkunft aus dem Geiste bleibt bei Freud gänzlich unbeachtet. Nicht dem Namen nach, denn ‚Seele’ wird von Freud ja verwendet, auch in den Zusammensetzungen wie ‚Seelenleben’ oder ‚seelischer Apparat’. Diese Namen nennen g’leichwohl nichts Seelisches im transcendenten Sinne, sondern eine „Gesammtheit der Hirnfunctionen“. Das, was er Es nennt, enthält auch unklarer Weise etwas, das mir als die Seele oder deren Vorgaben erscheint. Freud aber setzt das Ich als den Teil der Seele, der sozusagen die „Person“ ist, mit der sich die Seele masquiert und zug’leich indentificiert, was insofern merkwürdig ist, als in manchen Fällen das Ich durchaus ohne klar gegen es abgegrenztes Seele auskommt und ungenannt bleibt, ob und inwiefern die Seele nicht vielleicht etwas Anderes oder vielleicht Höheres denn das in oder auf ihr erst gründende Ich sei. Dann stellte Freud zwei Haupttriebgruppen einander gegenüber, nämlich die schon genannten Sexualtriebe, die er als Lebenstrieb deutete, und die Ich-Triebe, die er als Todestrieb zusammenfasste. Hierbei bleibt gänzlich ununtersucht, ob und wie das persönlich biologisch gedeutete „Leben“ ein Gegenstand eines nicht seinerseits biologisch deutenden Triebes seien könne und dass der Tod nur ein Gedankencomplex ist, welcher um das Sterben des Iches als künstlicher Einheit und der daraufhin weisenden Angst unbemerkt mit erfunden ward. Kurz: Für Freund blieb der Dualismus sozusagen als Wahrheit erhalten, wie die wahre Welt obiectiv zu beurteilen sei. Für ihn waren das Sterben und der Tod selbig, und der Todestrieb war ihm kein Denkmodell, das er construierte, sondern eine „Wahrheit“, die er „erkannte“. Die Seele fungierte als „Gehirnapparat“ ohne jedweden transcendenten Bezug. Das Leben und das von „innen“ bewegte Körperseien galten ihm gleich, ohne dies in einer Discussion zu plausibilisieren. Der eigentliche innere Kampf des Menschen ist aber nicht der zwischen dem strengen Über-Ich und den von ihm als „böse“ verurteilten Trieben des Es, sondern der des Wertens der unerfüllten Wünsche als böse wider das Wünschen als gut, was höllisch und unheilbar bleiben muss, weil so wohl das Werten als auch das Wünschen unerfüllbares Träumen sind, das ohne Wahrheit bleibt. Nicht das Über-Ich ist eine Instanz, sondern das Werten, das aber nicht über dem Iche regiert, sondern als Ich spricht, das Teile anderer Iche in sich aufgenommen hat. Das Werten aber macht aus der Schöpfung eine zerspaltete Welt, in welcher nach unmöglichem G’lücke zu streben nicht eine Idee verhüllter Triebe ist, sondern ein Richtungsversuch eines Blinden, der durch das eigene Werten geblendet wird. Der Kampf ist der, den er wider sich führt. Anders gesagt: sein Geg’ner ist allein er.
Die Lust ist ein Kampf, der von ihm als gut empfunden und durch diese „gute“ Empfindung als „gut“ gewertet wird. Die Angst ist ein Kampf, der von ihm als „ungut“ oder „böse“ empfunden und allso als „böse“ gewertet wird. Der „alte Mensch“ im phylogenetischen Sinne war immer und stets in nur einem und  selbem Kampfe, den er aber als unselbig erachtete, weil er ihn verschiedentlich wertete und empfand. Der „neue Mensch“ ist der Jenige, der aus dem geistlos kämpfenden Es-Ich aufwacht und allso den „alten Menschen“ im Sinne Nietzsches überwindet, indem des alten Menschen Wertungen, die im dunk’len Dualismos ‚gut-bös’ polarisiert sind, nicht neu wertet, sondern überwindet und hinter sich lässt, sodass er „jenseits des Lustprincips“ lebt. Dies „jenseits“ klingt nun zwar wiederum nach Freud, denn so ist der Titel einer seiner Aufsätze, welchen ich aber nicht meine, denn Freud entdeckte jenseits des Lustprincips ein anderes, den Menschen bewegendes Princip, und zwar den Wiederholungszwang, hinter dem ein sozusagen unbedingtes Lebensprincip stehe, was ich bezweifele, denn ich deute Wiederholungszwang als Anzeichen der Sucht. Aber das führt uns ab. Ich meine aber mit ‚jenseits des Lustprincips’ den Stand des neuen Menschen, der nicht nach dualistischen Principien tue und lasse, sondern der mach Niederlegung des Grundwertes „Ich“ nun ungespalteten Geistes ist und diesem und dessen Vor- und Eingaben folgt. Dieser neue Mensch hat seine Altgeburt hinter sich gelassen, sodass er neu geboren werden konnte. Er wird nicht mehr quatschen, labern, kakeln, ratschen, sondern sprechen.“
„Mir leuchtet die Unhaltbarheit des Dualismus’ noch nicht gänzlich ein. Was sagst du zu unseren Wörtern, die Gegensinniges enthalten? Im meine dies im Sinne des Buches: „Der Gegensinn der Urworte“ von K. Abel, allso Wörter wie etwa das lateinische ‚altus’ (das „hoch“ und „tief“ zug’leich nannte), oder das voralthochdeutsche ‚gestern’, das als „anderntags“ oder „unheute“ vermutlich „gestern“ wie „morgen“ nannte)? Bezeigen diese Namen und das zu ihnen Hinzugedachte nicht einen Dualismus, der ohne Wertungen entstanden seien muss?“
„Wenn du unter der Nennung ‚Wertung’ nur ‚gut - bös’ oder ‚sittlich – unsittlich’ denkst, dann erscheint dir ‚oben - unten’, ‚gestern - morgen’ als nicht gewertet. Wenn aber ‚werten’ eher nennt, dass etwas nicht gewusst, sondern gedeutet wird und dieser Deutung noch ein Sinn unterschoben wird, der beg’laubt wird, dann kommen wir dem Eigentlichen näher. Das Deuten ‚gut - bös’ oder ‚genehm - ungenehm’ ist eben so ein Nichtwissen, das nach dem Maßstabe eines beg’laubten Sinnes gewertet wird, nämlich, ob es vermeintlich gut sei oder nicht. Nehmen wir die Pole ‚gestern - morgen’ oder ‚früher - später’ und fragen uns, was gut sei und was bös, dann mag jemand gestern als gut weil vergangen werten und jemand Zweiter gestern als bös, weil vergangen deuten, je nachdem, was er als sinnvoll erachtet Ein alter Mensch findet das Vergangene vielleicht gut, weil er so kurz vor dem Sterben nichts Anderes gedanklich zu durchleben hat denn das Vergangene. Ein junger Mensch sieht im Vergangenen vielleicht etwas Böses, weil es ihm für die vergangene Jugend der ohnehin arg altmodischen Älteren und somit die Vergänglichheit seiner Jugend steht. Zudem sei bemerkt, dass ‚früher - später’ beide ‚einst’ und ‚gestern - morgen’ beide ‚unheute’ sind. Der Sinn aber in das Vergangene wie in das Zukünftige ist streng genommen ein Unsinn, weil Beides nicht existiert. Es ist nur etwas Gewertetes, etwas Gedeutetes. Die Sprache der Altvorderen enthielt mehr gegensinnige Namen denn unsere heuerige Sprache, aber das zeigt uns nur, dass die Spaltung des ‚Unheute’ in zwei Richtungen noch nicht getan worden war. Der Dualismus ist eine galoppierende Krankheit, die uns an den Rand des Wahnsinnes bringt!“
„Lasse uns doch bitte die Auswirkungen des dualistischen Deutens, Wertens und Denkens besprechen.“, bat ich Hans.
„Einverstanden.“
„Du sagst, wir deuten ‚gut - bös’ und zug’leich ‚innen - außen’. Demnach auch ‚Ich - die Anderen’.“
„Ja.“
„Und demnach eben’ Falles ‚Empfänger (oder Opfer) - Täter’.“
„Ja, allerdings mit wechselnden Personen. Mal bin „Ich“ der Empfänger, mal bin „Ich“ der Täter. Anderen Males ist „Ich“ der Täter und ein ander „Ich“ der Empfänger oder das vermeintliche Opfer.“
„Gut. Wenn „Ich“ nach eigener Wertung a priori „gut“ bin und empfange und ein unter Schmerzen Empfangenes als „bös“ werte, dann beginnt der Krieg der Wertungen. Wenn „Ich“ versuche, nicht „Böses“ zu empfangen, jedoch die von „mir“ nach meiner poetischen Causalität als „Täter“ oder Geber des Bösen gedeuteten ihre Gebung des „Bösen“ nicht einstellen oder zu ’m Guten modificieren, dann könnte „Ich“ versuchen, „mich“ zu ihnen hin umzupolen und (wenn auch nur vermeintlicher) „Täter“ des gewerteten „Bösen“ zu werden. Das wäre dann zwar immer noch nicht „gut“, dünkte aber als „besser“ denn der „Empfänger oder das Opfer des Bösen“ zu seien.“
„Genial! Du hast gerade den Grund des jenigen Verbrechens ausgelotet, das nicht aus dem Begehren nach materiellen Vorteilen geschieht. So wird ein Böser böse! Auch das Sexualverbrechen ist so motiviert, wie du es nennst. Und neurotische Zwangstaten eben so.“
„So gelangen wir endlich zu einem Nutzen unseres Denkens, wenn wir und klar werden lassen, dass wir nicht das „Ich“ sind, als das wir uns gewohnheitlich denken. Hierzu lasst mich ein Gedicht citieren!


Und nun? Die Stunde ist gekommen,
Die unheimlich stets vor dir hin
Lief mit, zerstörend allen Sinn,
An den du g’laubtest weltbenommen.

So oft bewünschtest du ihr Kommen,
Wenn du warst voller Weltenpein;
Doch schriest: "O nein! Sie soll nicht sei’n!",
Wenn G’lückes Höh’ du hatt’st erklommen.

Und weißt du, was du sei’st gewesen,
Du dunk’ler Herkunft fahles Ich?
Was weißt denn wahrhaft über dich?
Viel Ding der Welt hast aufgelesen,

Um deine Wissensdurft zu stillen.
Doch weißt nichts Wahres durch die Welt,
Die mit dir sterbend nun zerfällt
Und die nur sahst durch Deutungsbrillen.

Als Ich hast dich gemacht, ersonnen
Durch Deutung und durch G’lauberei;
Doch leblos ist solch' Zauberei,
D'rum hast den Tod du mitgewonnen.

Das Ich ist dir der Grund vom Werten:
Es wertet und gewährt dir G’lück;
Zug’leich verdrängt es schnell, dass querten
Auch Leiden dich, als Gegenstück

Die eben so vom Ich ersonnen;
Dies feig verschweigt es dir.
Hingegen, dass du G’lück gewonnen
Durch es, darüber jubelt ’s schier.

Als der Poet des G’lücks zu schaffen,
Das Ich zu deinem Schatz’ erblüht.
Zugleich es wetzt voll Angst die Waffen,
Wenn ob der Welt Zorns Funke sprüht.

Denn Schatz zu sei’n dir, ihm nicht g’nüget;
Es auch Schatzmeisterzunft begehrt.
So um die Kron’ es Gott betrüget
Und dir dess’ Kindschafft es verwehrt.

So hasst es dich und kann nicht lieben.
Und all darfür, an dem ’s ihm gebricht,
Wird’s dir die Schuld zuschieben;
Du bist sein Quell und siehst es nicht.

Und nun? Die Stunde ist gekommen,
In der zerrinnt dein Welttraumg’lück;
Du wirst nun geben All zurück,
Was eitel es dir hat genommen,

Um etwas um dich her zu machen,
Das du nie warst und du nicht bist,
Das in der wissenslosen Frist
Dich hielt, des Traums nicht zu erwachen.

Das Ich als den Rest des Seiens ausgrenzende Zusammenfassung wird von dem in uns deutenden, dualistischen Zusammenfügen auf die Seite des eigens gewerteten Guten gesetzt wird und in der Not des Nichtfindens des Guten dem Gedanken verfällt, das empfangene, erdeutete „Böse“ dardurch loszuwerden, indem es zu wiederholen ist, aber nun durch das Täter-Ich, nicht durch das Empfänger-Ich. Durch Wiederholung den Fehler zu finden zu suchen, ist ein bemerkenswerter Versuch, wenn wir darbei bedenken, dass alle Süchtigen immer nur die tote Durchlebung ihrer Suchtgegenstandsvernehmung wiederholen, ohne den Fehler je zu finden. Eben so strebt aller Begehr nach Wiederholung der Seiensweise, die als zu ’m Gewinne oder Gelücke führend erträumt wird. Die Wiederholung ist der Grund für das Ritual, das ein aus-wendiges und allso lebloses Nachahmen eines vernommenen, jedoch unerkannten Geschehens ist. Wie dem aber auch sei, wir könnten nun, wenn wir das, was wir wissen, anzuwenden bereit wären, unseren erdeuteten Mit-Ichen erklären, dass je „Ich“ eine Legion sei, die wir erfunden haben und immer neu erfinden, aber auch um- oder rückerfinden könnten. Unser „Ich“ erwächst in der Setzung als das „Gute“, das zug’leich eine Ausgrenzung des „Bösen“ ist, und wird bei der Unmöglichheit dieser Ausgrenzung seinerseits entweder irre oder böse. Das muss aber nicht so werden, weil wir ihm immer wieder eine neue Chance gewähren können, zwischen den Polen neu zu wählen und sich so doch noch als ein „Guter“ aus dem „Bösen“ auszugrenzen. Wir können in ihm unseren Teil bemerken, den wir aus „uns“ als scheinbaren „Ichen“ ausgegrenzt haben. Versteht ihr? Wie sehen, dass unser Nächster stiehlt. Und weil wir das Stehlen als böse aus „uns“ ausgegrenzt haben, ist dieser Nächste nun der Böse, weil er als Täter des Bösen erscheint. Aber er ist kein wahrer Täter, denn das Stehlen geschieht als Teil des großen Stromes des Werdens nur durch ihn hindurch und ist nicht wahrhaftig böse. Erkennen wir ihn aber als Seele wie wir, heben wir die gezogene Grenze auf. Ist unser Gegenüber feinfühlig und empfindsamm, bemerkt er die Aufhebung der Grenze idealer Weise und wird eben so geheilt wie wir. Und merkt auf, ihr Lieben! Hinter der Erfindung und Erwachsung des Iches und außerhalb dessen ist unser Paradies, in das wir hineinzuahnen vermögen, wenn wir meditativ des Jenseits unserer Deutungen, Wertungen, Denkungen des Iches besinnen. Hier schwebt und glänzt das große Heil, die größte Freude für uns!“
„Jo, sicher! Das klingt ja alles zwar logisch plausibel, gut und schön, aber dennoch so ung’laublich, dass ich nicht mitkommen kann. Wie viele Psychotherapeuten nämlich sollen all diese Millionen kranker Iche so zu heilen helfen, wie du es empfiehlst? Du bist doch nur einer unter Zehntausend und wir nur vier unter anderthalb Millionen hier in Hamburg. Wer ist denn heute schon bereit, deine den meisten Menschen entlegenen Heilungsvorschläge auch nur anzuhören?“, fragte Werner.
„Vielleicht gelingt es nicht so schnell, sondern nach und nach? Aber auch ein lange dauerndes Werden muss eines Males begonnen werden; die Länge dessen ist doch kein Argument dargegen.“, schob ich behutsamm ein.
„Dann sterbe ich lieber zuvor noch am Suff!“, höhnte Werner trocken.
„Überredet!“, schloss Hans sich Augen zwinkernd an und hielt Jan sein Glas hin.
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.

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