7. Schuldsucht und Heilung
Und Hans erzählte uns eines Tages die ungewöhnlichste Geschichte, die wir je gehört hatten: „Jedes Tages ward es mir einst, vor langer Zeit, derweil des Fahrens mit meinem Ipsemobil (man könnte es auch ‚Autokinet’ nennen, aber ‚Automobil’ ist eine hellenisch-lateinische Stilverbeulung) durch die enge, steinerne Stadt arg und ärger. So unermesslich viele Leute mit auffallend mangelhaft entwickeltem Verständnisse für den Bewegungsreigen und das bewegte Miteinander auf Straßen, Kurven und Kreuzungen hatten sich eine eigene Motorkarre gekauft oder geliehen oder geleihkauft und mussten sie nun jedes Falles über allen Orten, in allen Städten, zu jeder Stunde, auf dem ganzen Lande mehrheitlich g’nadenlos gebrauchen.
Und sie hatten jeder eine amtliche Erlaubniss, dies zu tuen. Anders gesagt: Sie waren zu fahren berechtigt. Aber ob sie deswegen auch recht zu fahren wussten, war ich betreffs die meisten ihrer in großem, wenn nicht größtem Zweifel. Die meisten Fahrer sahen das allerdings anders und dünkten sich als gute oder gar hervorragende Chauffeure; das allgemeine Unvermögen bei eben so allgemeinem Dünkel, vermögend zu seien, war nicht zu leug’nen. Der eine Fahrer fuhr in Folge seines Leichtsinnes zu schleunig und ängstigte Radfahrer und Fußgänger; der andere Fahrer fuhr auf Grunde der Trägheit seines Intellectes übermäßig langsamm und provocierte Auffahrunfälle. Die meisten Fahrerinnen waren zu angsthörig, um zu überholen, und zockelten wie Schäfchen und Kühe hinter dem Hirtentrecker d’rein, was schier endlose Colonnen hervorbrachte. Diese wiederum verlockten so manche ungeduldige, übereilige oder abenteuerlustige Fahrer zu gewagten Überholungen, die nicht selten zu einem Zusammenstoße mit den Wagen des Gegenverkehres führten, weswegen die männlichen Fahrer in der Knallstatistik als die durchschnittlich „schlechteren Fahrer“ gewertet warden denn die weiblichen, wobei diese Knälle nicht geschehen wären, wenn das angsthörige Fahrverhalten der Fahrerinnen nicht gewesen wäre, die in der Statistik aber als „die Guten“ dar standen, weil sie ja in keinen Knall hör- oder sichtbar verwickelt worden waren. Oder diese Fahrerinnen vermochten die Ausmaße ihres Wagens gedanklich nicht zu erschließen: weil sie mangels eines Gossenfensters den rechten Rand nicht sehen konnten, wähnten sie, ihre Karre sei nach rechts hin mindestens anderthalb Meter breiter als nach links, wo sie durch die Scheibe den Rand sichtlich ermessen mochten. Ein nächster Fahrer war gehirnlich zu bequem, den Blinker zu betätigen, als sei seine Fahrtrichtung seine Privatangelegenheit; der vierte Fahrer blinkte erst dann, wenn er schon in der Abbiege war, weil er das Blinken nicht als Mitteilungsfunction an andere Verkehrsteilnehmer verstand, sondern ein geistlos gelerntes Verhalten nur mehr verstümmelt reproducierte. Der fünfte Fahrer war übermäßig lustig oder sonstwie pervers verstiegen darauf, seine Schuldhupe zu verwenden, um andere Verkehrsteilnehmer zu disciplinieren oder doch zumindest akustisch zu züchtigen.
Ah, ja, die Hupe! Besonders gern wird dies Instrument zur Warnsignalgabe eigensinniger Weise und zweckentfremdet eingesetzt, nämlich um Schuld zuzuweisen. Ein kraftvoller ausdauernder Druck auf die stärkst und schrillst möglich tönende Schuldhupe machte einem jedem Hörer klar, wer gerade in seinem hohen Amte als Straßenverkehrsbeurteiler wen als schändlichen Verkehrsverbrecher für schuldig befand und auf der Ebene des Gehöres bestrafte.
Eines fronlos freien Tages aber, auf einer Bank am Rande eines öffentlichen Parcs sitzend, von der aus eine große Straßenkreuzung und der Verkehr darauf ruhig zu überblicken waren, bemerkte ich mit einer Empfindung, als sei plötzlich das Licht in meinem düsteren Seienszimmer angeknipst worden, dass ich derweil meines sonstigen Fahrens - wenn ich denn fuhr - unablässig in einer schuldhaften Causalität dachte und empfand. Strahlend klar war es mir mit einem Male, dass ich immerzu alles schuldhaft wertete, nämlich das ganze Fahren meiner und der anderen Fahrer oder auch der Fußgänger, der auf den Gehwegen spielenden Kinder, der Rad’ler, der Rollstuhlfahrer. Alle waren in steter Bringschuld, den Verkehr nicht zu unterbrechen oder Jemanden zu belästigen, zu behindern, zu gefäärden. Und wie schnell verwandelte sich die unschlimme Bringschuld in eine kaum zu ertragende Verbrechensschuld! Verwandelte sich? Nein, verwandelte ich, der irre, trostlose Hans! Ich verwandelte die Erscheinungsart der Schuld von zumeist unbewusster Bring- zu kräftig gedachter Verbrechensschuld um. Und als Maßstab für solche Verwandelung diente mir: Ich, zweifellos und stets: Ich als das mir wichtigste Rädchen im Verkehrsgetriebe. Und zug’leich bremsten, hupten, klagten an, verurteilten und hassten auch die anderen Fahrenden nach jeweils ihrem Maßstabe so, wie ich von meinen Ung’naden es tat.
Auch nach dem Aussteigen aus dem Autokinet ward die Schulddenke fürder betrieben. Auch heute, nun, auf der Bank sitzend, war ein jeder Passant mir bringschuldig, nämlich Ruhe und höfliche Manieren und ein genehmes Äußeres zu bringen. Tat ein Passant dies nicht, ward er unverzüglich schuldig gesprochen, wenn auch ohne Ton, allso schuldig gedacht: „Ah, ein Prolet, der (wenn auch ohne zu rech’nen) ausgerech’net vor meiner Bank den Rotz aus seinem Schlunde widerlich hervorspeit!“ Oder ich urteilte: „Ein geschmacksverirrtes Weibchen, dass es solch flirren Fummel trägt!“ Vielleicht wertete ich aber auch: „Welch ein irregeführter Blinder, der solch niedergeistig üb’le, kreischige Rumms-Bumms-Baller-Boing-Musik über seinen Kopfhörer erhorcht, um die graue Ödniss seines trostlosen Gemütes ablenksamm zu übertönen!“
Es war wie eine Zwangsneurose: Ohne Unterbrechung musste ich alles und jeden werten! Ohne zu werten vermochte ich nicht eine Minute still zu sitzen. Auch dann, als ich einst zu meditieren und in die Ruhe zu finden versuchte, wertete ich, nämlich die vor meiner Stube vorbei fahrenden Wagen und den durch sie mir erbrachten Krach und Lärm. Dieser hindere mich zu meditieren, sagte ich mir, der ich ohne den Lärm aber in jener Stunde auch nicht in das mediale Ruhen gefunden hätte, weil ich voller weitweltlichem G’lücksbegehren war, das mich zu ruhelosen, hastvollen Vernehmensträumen trieb.
War werten zu müssen nicht allso wirklich zwanghaft? Und war das allso ernstlich ‚gesund’ zu nennen? Oder klang dies nicht eher nach einem durch den Willen niederbeugende Sucht bestimmten Müssensverhalten? Ich war schuldsüchtig, gestand ich mir erschrocken und zug’leich stölzlich fasciniert ein (obwohl dies nichts Besonderes war, darauf stolz zu seien einen plausiblen Grund bot, denn alle Menschen litten und leiden unter dieser Sucht). Die Sucht aber war das Siechtum; die Schuldsucht war allso das Siechen des Denkens und Deutens in Schuld. Darbei war Schuld etwas, das ich von anderen Leuten nicht zugewiesen zu bekommen wünschte! Diese oberflächlich denkenden Menschen, die sich einbildeten, sie seien competent, mich schuldig zu sprechen! Das sollten sie lassen! Dies Soll war allso ihre Bringschuld. Und wenn sie diese nicht erbrächten, allso das Mich-schuldig-Sprechen nicht unterließen, dann wären sie von sich aus schuld daran, dass ich sie als eines Verbrechens schuldig zu beurteilen hätte, ja: müsste. Dies ungeheuere Wort gab mir gewichtig zu denken, sodass ich es bedachtsamm repetierte und bei ‚von sich aus schuld’ stockte. Was sagte ‚von sich aus schuld’ mir? Sagte es, dass jene von mir bedachten Menschen nicht erst durch meine Schuldigsprechung, doch durch ihr Tuen sozusagen von allein schuldig geworden seien? Und zeigte dies allso die Obiectivität der Schuld? Oder zeigte diese Wortfolge den Wahn, mein unablässiges Schuldigdenken und -sprechen seien nicht von mir, sondern von den allso wahrhaftig Schuldigen hervorgebracht worden? So wähnte ich allso, meine Deutung des Geschehens sei keine von mir gemachte Deutung, sondern die Wahrheit? Und – die Wahrheit war das Stichwort, das mir einen anderen Denk eröff’nete - aus dieser irren Schuldsiechheit habe uns Alle der Christus erlöst? Dies, was ich heute Abend euch erzähle, geschah allso noch lange vor unserem zuletzt Besprochenen, nämlich was die Wahrheit sei, ihr versteht?“
Wir nickten und waren auf die Fortführung der Erzählung begierig.
Hans fuhr allso fort: „Und ich erinnerte ein Geschehniss, das mein Darseien bestimmend widerspiegelte. Ich saß im zweiten Waggon eines Zuges auf der Reise nach Dorthinhausen. Mein Vater saß aus dem Grunde des Platzmangels im Waggon vor mir. Auf dem Perron eines Bahnhofes, in dem der Zug hielt, war etwas Außergewöhnliches geschehen, sodass der Zugführer vergebens aus seiner Locomotive nach dem Abfahrtssignal ausblickte. Der Bahnsteigschaff’ner lief unruhig herum. Mein Vater stieg aus dem vorderen Waggon aus und kam an den zweiten Waggon, darinnen er aus dem geöff’neten Fenster zu dem Anlasse der Aufregung hinaus suchte. Als mein Vater mich sah und bemerkte, dass ich ja im Zuge und allso nicht der Aufreger war, erleichterte sich seine Miene und er sprach zu mir: „Und ich dachte schon, du seiest schon wieder und wie üblich an dem Schlamassel schuld!“ Ich war allso schon immer schuldig gewesen, auch wenn ich keinerlei Fehlen begangen hatte.“
Hans brach an dieser Stelle seine Erzählung ab, als sei sie schon vollendet worden.
„Eine bemerkenswert tiefsinnige Geschichte, Hans! Dass alles so auf Schuld hin gesehen wird, habe sogar ich als Iurist noch nicht gesehen. Aber die Geschichte ist noch nicht am Ende angelangt, oder?“, fragte Jan behutsamm an.
„Du sprichst trefflich, Freund. Ich wollte erst, bevor ich dies Merkwürdige fürder erzähle, klären, ob Ihr jemales zuvor die Allgegenwart und Denkbestimmungswirkung der Schuld so innig bewusstet wie nun? Ich tat das nämlich nie zuvor, und es war wie eine Offenbarung für mich.“
„Das ist es auch für mich. Auch ich habe noch nie die Schuld so bewusst wie du.“, bekannte ich.
Auch Jan und Werner nickten zustimmend.
„Nun, wohl; so werde ich fortfahren. Ich schlenderte nämlich nachdenksamm durch den Parc. Abseits der lärmigen Wege stand eine zumeist unbeachtete Bank im Halbschatten, auf der ein Mann unbestimmbaren Alters in entspannter und dennoch concentrierter Weise saß. Ich erblickte ihn zunächst ohne Teilnahme, doch empfand ich mich mit einem Male als von diesem Menschen unsagbar angezogen und ging zu ihm. Frieden strahlte aus dessem Antlitze in alle Richtungen aus, und namenlose Sympathie lächelte ihm gewissheitsvoll entgegen. Ich grüßte erwartend und setzte mich neben den Menschen auf die wunderbar situierte Bank, von der dem sie Besitzenden ein erhebender Ausblick über das schier endlose Gartengelände geboten war.
Dieser anziehende Mensch neben mir aber fragte mich sänftlich und höchst erstaunlich: „Was suchst du?“
Verwundert ob solcher Frage zu ’r Begrüßung antwortete ich nach kurzem Bedenken: „Frieden. Ich suche Frieden in der Welt ohne die vielen geistarmen Hartköpfe und ich wünsche einen ruhigen Ablauf des Geschehens in dieser Stadt und in meinem Leben.“
Der Weise lächelte verständig und fragte fürder: „Du bist ohne Frieden? Dann ist allso Kampf? Wer ist dein Geg’ner?“
Verwunderter denn zuvor entgeg’nete ich nach einem Weilchen des Wirkenlassens der Wörter der Frage: „Eine Legion widerwärtiger Menschen, Strömungen und Umstände!“
„Soso. Und was lastest du ihnen an?“
„Schuld. Sie sind allesammt und immer schuldig!“
„Ah? Aber du weißt doch schon, dass deren Schuld nur eine Erfindung aus deiner Schuldsucht heraus und allso keine Wahrheit ist. Wie mögen oder möchten sie dann widerwärtig bleiben, wenn du die Schuld von ihnen abziehst oder abzögest? Allso nochmales: Wer ist dein Geg’ner?“
„So gesehen: allein ich!“, antwortete ich staunend.
„Gut. Wessen Geg’ner aber ist dieser Geg’ner?“
„Meiner. Oder nicht?“
„Nicht gut. Du bist nicht der Geg’ner und zug’leich des Geg’ners Gegenüber. Entscheide dich!“
„Oha! Du gehst aber zügig in die Tiefe, mein lieber Mann!“
Dieser lächelte in aller Ruhe. Und ich bedachte staunend die Frage. Wessen Geg’ner war ‚mein Geg’ner’, wenn nicht einfach ‚Ich’?
„Diese ist eine gute Frage!“, bekundete ich.
„Das sagst du nur, weil dir nicht g’leich eine Antwort einfällt?“
„Nein, weil ich ihre Tiefe bemerke!“
„Schön! Sonst sagst du darzu aber nichts?“
„Das kann ich nicht ergründen. Wenn meine Gedanken meine Geg’ner sind, dann sind sie aber doch in mir als des Geg’ners Gegenüber.“
„Nun, gut. Du bist allso zerspaltet. Wer bist du allso? Oder was? Nicht etwa eben’ Falles eine Legion widerinniger Denkungen, Denkströmungen und Denkumstände?“
„Oho! Waren diese nicht meine eigenen Worte in Bezug auf die Leute?“
„Fragst du mich das? Oder erinnerst du es?“
„Ich erinnere es. Ich bin allso eine Ego-Legion, die größten Teiles wider mich ist und versucht und wirkt. Frieden suchend ist allso nur ein kleiner Teil in mir, dem die unfriedliche Legion gegenübersteht.“
„Gut. Und willst du diese Legion besiegen?“
„Wenn ich dies wollte, dann müsste ich gegen eine Übermacht kämpfen. Könnte ich auf solchem Wege siegen?“
Der Weise lächelte und schwieg.
„Angenommen, ich ließe die kämpfende Legion hinter mir?“
„Dann käme sie hinter dir her.“
„Außer, wenn ich wohin entkäme, darhin sie mir nicht zu folgen vermag.“
„Wo möchte dies seien?“
„Wenn sie eine kriegerische Legion ist, die nur zu ’m Kriegen taugt, dann vermag sie mir nicht in den Frieden zu folgen.“
„Bravo.“
„Aber wie komme ich dorthin?“
„Vielleicht bist du schon dort und bemerkst es nur nicht.“
„Das kommt auf das Selbe hinaus. Wenn ich schon dort wäre, ohne es zu wissen, dann käme ich durch das Bemerken dorthin, so widersprüchlich dies klingen mag.“
Des lächelnden Weisen Lächeln nahm zu, sodass er geradezu entzückt schien, blieb aber schweigend.
„Na, gut.“, fuhr ich fort. „Ich möge es allso bemerken. Vielleicht ist der erste Schritt zu diesem Bemerken das Beausfindigen des Gedankens des Friedens, der weder mit der Legion noch gegen sie zu kämpfen wünscht.“
„Beausfindigen? Das klingt aber fremd.“, commentierte der Weise unentwegt g’lücklich lächelnd.
„Lustig machen ist belustigen; leidig machen ist beleidigen; ausfindig machen demgemäß beausfindigen.“
„Gut. Und nun hast du den Gedanken zum Frieden gefunden. Und denn?“
„Dann müsste ich vielleicht herausfinden, dass ich in Wahrheit nur dieser Gedanke bin, nicht die anderen Gedanken, die zu ’m Kriege wollen oder schon er sind.“
„Ausgezeich’net. Aber nun fängt das Entscheidende erst an.“
„Das Ent-scheidende? Ist der Gedanke nicht schon aus den üb’rigen ausge-schieden? Ah, ich darf noch mich für das Ge-schiedene ent-scheiden. Wenn ich nun aber wähle, der Friedensdenk zu seien, und nachhin bedroht werde, sagen wir: angegriffen von autokritiklosen, Paragraphen fletschenden Vorschriftsvoll-streckungssadisten werde, dann kommen Gedanken des Krieges auf den Bewissensplan und übernehmen die Wegführung.“
„Ah, ja? Wieso?“
„Sie drohen, mit staatlicher Legitimierung mir Geld zu stehlen.“
„Das nennst du eine Drohung? Dem Süchtigen den Suchtstoff zu entreißen?“ Und der Alte lachte wie ein köstlich Amüsierter.
„Oh, ich bin allso nicht nur schuldsüchtig, doch auch geldsüchtig?!“
„Nein?“, lachte der Alte stärker.
„Ach! Es trifft ja zu, was du sagst! Ich weiß es.“, gestand ich resigniert ein. „Wieso aber sind die wenn auch nur scheinbar Drohenden mächtiger denn der Gedanke des Friedens?“
„Sind sie nicht. Macht erzeugt Leben; jene aber drohen, es zu knechten oder zu morden. Das gelingt ihnen nicht, höchstens körperlich oder träumlich. Wenn aber du nur der Gedanke des Friedens im Sinne des bloßen Nichtkriegwollens bist, dann bleibst du im Falle des Angegriffenwerdens nicht sicher. So räumst du ihnen eine scheinbare „Macht“ ein. Allso aber musst du noch ein zusätzlicher Gedanke seien, wenn du ihre nur scheinbare „Macht“ als Prahlerei zu ersehen wünschst.“
„Der der Unmöglichheit, angegriffen zu werden.“
„Das wird immer besser, mein Lieber.“
„Wenn ich weiß, dass ich unangreifbar bin, dann bin ich auf der Ebene des Wissens kein Körper und kein Dingbesitzer, denn Körper und besessene Dinge möchten angegriffen werden.“
„Und wenn du unangreifbar wärest, bliebe dann noch Raum für die Schuld?“
„Nein. Schuld ist eine Wertung derer, die noch g’lauben, dass sie angreifbar seien.“
„Wunderbar, mein Goldjunge! Schuld ist die Rückseite der Medaille des G’lücktraumes in der vergänglichen Welt, der sich auf Dinge und Körper stützt. Diese sollen nützen, nämlich der Erbringung des G’lückes, und so werden sie stets und immerzu mit dem begierigen Auge auf den Nutzen hin angeblickt und entweder als nützlich oder als unnütz gesehen. Der goldene Reichtum der unsichtbaren Fülle des Geistes wird so jedoch nicht geschaut. Allso verhindert Schuld die Bedeutsammheit des Seienden, weil es nicht einfach so geschaut wird, wie es erstrahlt, sondern nach der faden Nützlichheit untersucht und allso durch die Mangelbrille gesehen wird, nicht durch das Aug der Liebe, das die Fülle schaut und Nützlichheit nicht bedeutsamm findet. Schuld ist die graue Wolke, in der wir wandeln und durch die wir Alles als bedeutlos-graugültig sehen. Unschuld aber ist nicht etwa das Gegenteil zu ’r Schuld (das wäre die Nicht-Schuld), sondern der dynamische Zustand der G’nade, in dem Seelenschuld trotz iuristisch erwiesener Schuld nicht möglich ist! Diese Unschuld zu erreichen ist der Sinn der Torah, der Weisung, der erfüllt werden soll an des Buchstabens Statt, der nur für Moralisten taugt, die am Ende nur die Schuld zu vermeiden suchen und ihre Nächsten zu dem Nämlichen aufheißen, nicht jedoch die Unschuld ihres moralbrüchigen Nächsten schauen!“
Ich bedachte all dies und kam mir wie erleuchtet vor. „Aber die Menschen wollen all dessen nichts wissen. Sie träumen des G’lückes ohne Geist, ohne gedankliche Klärung ihres Seiens, und staunen bestürzt, wenn sie mal wieder - immer wieder! - bemerken, das dies nichts wird.“
„Du sagst es. Die Leute laufen vor all den Fragen weg wie kleine Kinder vor dem Zahnarzte und jammern derweil über den Zahnschmerz; so ist das. Ich erzähle dir ein Gleichniss:
Dutzende Leute gingen tagtäglich zu dem stadtbekannten Amuletten-Anton in dessen Laden, darinnen er mannigfach „esoterisches“ Kramgut zu verschenken anbot, weil er so geldreich geworden war, dass er nichts (zu) verhökern (be)durfte. Die gierigen Mangelg’läubigen suchten sich immer die teuersten Kästchen mit den Pillen für die Gesundheit darinnen und die prallen Beutelchen Münzgeldes für die Begehrerfüllung und den Schuldfreikauf aus und wünschten, sie mit zu nehmen. Aber als Anton ihnen lieblich lächelnd anbot, ob sie nicht lieber das Säckchen Geldes und das Kästchen Körperheilgiftes gegen ein unfassbares Quäntchen ewigen Geistes einzutauschen geneigt seien, verlachten sie ihn, nannten sie ihn einen Narren und zeigten ihm schläulich grinsend mit dem Zeigefinger an ihre Stirne oder Schläfe und lehnten dies Wahlangebot ab. Darmit könne man doch nichts anfangen, blökten sie und verließen mit ihren ergatterten Mischungen aus Heilgaukelpulver und Legierungen aus G’lücksgaukelmetallen zufrieden den Laden.“
„Oh, ja, es ist erbärmlich, wie umnachtet schlau die Menschen sind.“, lachte ich sarkastisch.
„Und dies ist nicht allein in der Schulddenke zu bemerken. Wie ist ’s mit der Krankheit? Die Krankenhäuser sind überfüllt mit Krankheitsg’läubigen.“
„Ah! Bin ich auch noch krankheitssüchtig?“
„Nein, aber körpersüchtig. Und diese Sucht führt die Krankheit im Gepäcke mit.“
„Körpersüchtig? So, wie ich g’laube, Geld und Schuld seien als Elemente für mein oder das Denken unverzichtbar, sei es auch der von „innen“ bewegte Körper? Allso ist er doch nur das Gefährt für unsere Reise durch die Zeit auf der Erde? Und wenn das G’lück dieser Reise misslingt, dann dämmert die Schuld am Abendhimmel…“
„Nun übertrage die Schuld auf die Krankheit!“
„Mit fällt erinnerlich ein: ‚Was ist leichter zu sagen: „dir ist die Schuld vergeben“ oder zu sagen: „steh auf und geh umher!“? (Mt 9,5). Beide, Schuld wie Krankheit, sind allso zu vergebende Fehldächte und Irrg’lauben.
„So ist es. Die Krankheit ist allein des irdischen Körpers und des körperlichen Denkens und G’laubens; sie kann nicht obsiegen, wenn der Lichtleib der Seele heil ist und das Bewissen stellt. Die krank sind, bewissen ihren Lichtleib nicht und g’lauben, sie seien der Stoffkörper, darinnen der Lichtleib eine Zeit lang durch die Zeit der Erde reist. Dieser Stoffleib ist stofflichen Angriffen ausgesetzt wie etwa durch Bakterien und Viren oder sonstige in Stoff verwandelte Gedanken ohne Geist.“
„So will ich denn hingehen und all dies in der Stille des weiten Landes außerhalb der steinernen Stadt bedenken.“
„Du weißt schon Alles. Du musst nur noch die Wörter deines gedanklichen und empfindenden Darbeiseiens bei allem Seienden aneinanderfinden und durchgeisten, dann lebt dein Wissen dir. Gehe und lebe wohl, mein Freund!“
Seid ihr immer noch mit mir, Freunde?“
„Aber ja, Hans! Ung’laublich spannend!“
„Ich finde das eher abgefahren.“, meint Werner.
„Aber ab wo, Werner? Ich meine das nun nicht sarkastisch oder spitzfindig, sondern finde dein Wort gerade passend, denn Hans und seine Darstellung der Schuldsache sind mit dem schon besungenen „Zuge nach Nirgendwo“ abgefahren. Dies Nirgendwo meine ich weltlich-räumlich, denn so, wie wir denken, ist immer Welt und mit ihr Schuld. Und Hans ist nun schon auf dem Wege zu diesem Nirgendwo, dar kein Körper wohnt und allso keine Angst, kein Mangel, keine Schuld, kein Tod. Lasst ihn doch fürdererzählen!“
Hans schaute uns alle fragend an; wir nickten allesammt. So sprach er denn: „Und ich ging nachdenksamm heim, nahm des nächsten Tages mein Fahrrad und fuhr darmit unter heiterem Himmel aus der Stadt hinaus auf das weite, schöne Land Schleswig-Holsteins zu einer lauschigen Stelle, dar ein mir nicht namentlich gekannter Bach unter überhängenden Bäumen und Sträuchern endlos und friedlich vor sich hinfloss. Ich setzte mich am Ufer in ’s weiche Moos nieder und versank in die Beschau des glucksenden und plätschernden Wassers. Nach langer Weile, die mir nicht als „langweilig“ vorkam, empfand ich zunächst, ein Teil des dort Seienden zu seien. Später bemerkte ich tiefer empfindend, dass ich ein ungetrennter Teil dessen sei. Dann ersah ich innerlich, dass ich das, was ich als Umgebung meiner sah, erfunden hatte. Auch den vermeintlichen Zwischenraum hatte ich so erdichtet, wie auch ich als „Hans“ erfunden worden war; das, was dort von sich aus war, war nicht so zu sehen, wie ich es immer sah, sondern strahlte mehr und war minder stofflich. Ich lüftete den Schleier meines gewohnheitlichen Mangelblickes und hob somit den blassen, grauen, das Licht verhüllenden Farbton auf: das Wasser des Baches strahlte wie eine Lichtquelle und als ich es kostete, schmackte es mir wie köstlichster Wein.
Und ich ward allso eins mit allem Seienden, aber nicht körperlich, sondern bedeutlich. Eine unsagbare Bedeutsammheit war mir offen und ich erinnerte selig staunend, dass ich dies früher schon gewusst hatte, dass Alles so wahrhaftig bedeutsamm ist. Die Öff’nung geschah erstaunlich leichthin, als ich nämlich in einer liebenden Schwebe beim Schauen in das bewegte, strahlende Wasser bereit war, die mit Angstgift besetzte Wichtigerachtung meines Wissens um die Zergrenzungen der Schöpfung in tausenderlei Scherben mit je eigenem Namen einfach fahren zu lassen.
Als ich allso seligen Lächelns und Erinnerns eins geworden war, schaute ich das Wasser nicht mehr als bewegt, sondern als lebend, versteht ihr? Es war von sich aus lebend, aber nicht als „Leben für sich“, sondern als Teil des einen LEBENS, sodass zugleich aller Mangel wie eine dochtlose Kerze erlosch. Die Angst ward mit einem Male unsinnig, die Schuld unmöglich und der Tod mochte als Zustand vor der Erkenntniss des Lebens empfunden werden. Ich war nun gänzlich ich als ungetrenntes Selbst, das allso dem Selbste meines nächsten - tja, wie soll ich es nennen? Meines nächsten Dinges? Nein, das klänge so tot, sagen wir lieber: dass ich dem Selbste meines nächsten Seienden nicht unselbig war, und schaute in seiner Umgebung keinerlei Obiect, dem ich als Subiect gegenüber stand, sondern das Heil ohne Grenzen oder inneren Zergrenzungen.
Staunend und selig wandelte ich durch dies Heil hindurch. Dann begeg’nete ich auf einem ansonsten leeren Feldwege meinem nächsten Menschen und schaute in diesem die heilige Unschuld und erkannte derweil in ihm meinen nicht leiblich-familiären Bruder, dass er des einen und selben Vaters im Geiste sei. Heilung war geschehen und blieb at’mend und strahlend hier und nun.“
Nach langem Schweigen fragte Jan so leise, als wolle er niemandes Schlummer stören: „Und was tust du dann noch hier bei uns?“
„Der letzte Teil der Geschichte ist ja nur erdichtet. Ich bin bei euch, meinen Freunden, wie immer und trinke einen Schoppen Weines mit euch. Die Heilung, einerlei wie weit sie gedeiht, ist doch kein Privatvergenügen. Ich bin mehr denn je euer Freund.“
Werner schwieg mit glänzenden Augen. Jan aber sprach eben so berührt: „Dann bin ich ja beruhigt, mein Lieber!“
„Und die Heilung ist nicht nur kein Privatvergenügen, sondern es führt auch kein eigener Weg zu ihr hin. Hans, jenseits des Randes der Peripherie deines weiten Wissens schwingen keine isolierten Lungenflügel durch die erlöste Luft, sondern wird dein Wissen so vom Lichte verschlungen wie dürres Holz vom klaren Wasser des Lebens.“
„O ja, Wasser des Lebens, das ist aqua vitae auf Latein. Jan, hast du mal noch ’ne Runde Aquavit für uns? Mich dürstet unter diesen Wissenden und Weisen so erbärmlich!“, klagte Werner.
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.
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