Sonntag, 11. November 2012

12. Die Jedentagschristen

12. Die Jedentagschristen




Eines Abends erzählte uns Jan mal wieder eine überzogene Geschichte, die jedoch wie immer etwas Hochwichtiges berührte. Wir lauschten mit Spannung seinen Worten über das gelebte angebliche Christentum oder vielmehr über das große Schwerniss eines Jesuaners, ohne Geist als Christ zu leben.
„Neulich erzählte mir jemand, den ich nur durch meine Anwaltstätigheit kenne und nun aus Gründen der Verschwiegenheit verdeckend „Herrn Frommel“ nenne, sein schier ung’laubliches Erlebniss. Er muss sich wegen grob fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten, weil er mit überhöhter Geschwindigheit gefahren ist und darbei ein Kind überfuhr. Er erzählte mir die ganze Vorgeschichte haarklein. Hier ist sie, als krasse Kurzgeschichte, wenn Ihr wollt:
„Als der Priester seiner Gemeinde in der Sonntagspraedict g’laubwürdig salbungsvoll über Nächstenliebe und Vergebung sprach und das durch diese Beiden mögliche Paradies auf Erden gelobte, ward es dem g’läubigen Herrn Frommel so warm um 's Herz, dass er ohne Heuchelei, aber mit verklärtem Lächeln an den Lippen des Priesters hing. In bester Hochgestimmtheit des christlich empfindenden Herzens verließ er nach dem Segensspruche die Kirche so friedlich, wie all die anderen lieben Schäfchen der Herde.
Einer derer aber rammte ihm in der Enge der Türe den Ellenbogen in seine Seite, und der stechende Schmerz ließ eine Woge jähen Zornes in seinem Gemüte aufwallen, die jedoch durch die herzliche Bitte um Entschuldigung seitens des Ellenbogenrammers unmittelbar wieder verebbte; es war ja keine Absicht gewesen. Ja, das konnte schon eines Males geschehen; und es war ja nichts Schlimmes, und das liebe Gemeindemitglied war ja auch ein netter Kerl, wie er wusste. Das musste man ja Alles nicht so eng sehen, nicht? Unter Christen schon gar nicht! Seien wir allso großmütig und gedenken der Vergebung! So schön ist der Sonntagsfrieden!
Als Herr Frommel aber an seinem in der Nähe der Kirche abgestellten Wagen kam, gewahrte er mit ung’läubigem Schrecken eine dicke Delle hinten rechts und das dort gänzlich zerstörte Rücklicht. Jäh loderte eine Flamme des Zornes wiederum in ihm auf und er blickte schnell um sich, ob er den Misstäter noch mit den Augen ergreifen könne. Niemand jedoch war zu sehen. Ach, wer machte denn Solches?! Nicht mal in Ruhe in den Gottesdienst konnte man gehen! Und wie viel die Reparatur wieder costen werde?!! Solch eine Niedertracht! Diese Unfallflüchter sollten strenger bestraft werden, diese feigen Buben!
"Nicht wahr, Herr Frommel?", fragte ihn im Vorbeigehen ein Nachbar, der eben' Falles in der Kirche gewesen war, flötend. "Hach, war das nicht eine wunderbare Praedict heute? Ach, ja, Vergebung und Nächstenliebe sind wahrhaftig das Einzige, um den Frieden unter uns Menschen zu bringen. Geseg'neten Sonntag noch, Herr Frommel!"
Unter höchster Eigenbeherrschung murmelte Herr Frommel eine höfliche Phrase zu dem Nachbarn, derweil dieser fürderging, ohne etwas bemerkt zu haben. Vergebung und Nächstenliebe! Ach! Der hatte Nerven, der Nachbar! Hatte der feige Unfallflüchter vielleicht Nächstenliebe bewiesen? Und dem sollte er jetzt wohl vergeben, was?! So eine Ungerechtigheit! Er hatte dem doch nichts Böses getan! "O Gott im Himmel", dachte Herr Frommel zürnend, "DEN solltest du bestrafen, nicht mich! Ich habe doch nichts verbrochen! Oder?!" Grimmig fuhr Herr Frommel nach (seinem) Hause, und derweil der Fahrt schwelte die Zornesglut immer weiter in ihm, stets auf 's Neue geschürt, wenn ihm jemand die Vorfahrt nahm, zu dicht auffuhr, zu langsamm abbog, nicht blinkte, oder bei "Gelb" bremste anstatt tüchtig Gas zu geben, um noch über die Kreuzung zu kommen. Vergebung? Ha! Diesen Fahranfängern und Sonntagskriechern sollte er wohl auch noch vergeben, was?! Eine üb’le Zumutung war das! O Gott, warum hast du deine Kinder so reichlich dämlich erschaffen?! Nicht mal Autofahren können sie, diese Schwachköpfe! Nächstenliebe?! Ha! Schön wär' 's ja! Aber ist die überhaupt möglich bei so vielen Verbrechern, Dummköpfen, Lüg’nern und Atheisten? Ach, was!
Kurz, bevor er an seinem Hause ankam, erblickte er auf dem Radwege einen unmöglich aussehenden Jugendlichen (obwohl dieser gerade die Möglichheit solches Aussehens dennoch bewies), der auf einem Fahrrade fuhr, das dem Rade Herrn Frommels gänzlich glich. Ein bohrender Verdacht glomm in ihm auf: „Sollte dieser missratene Jugendliche etwa...?!!“ Als er auf den Hof fuhr, das aufgebrochene Garagentor sah und das Abwesen seines Fahrrades bemerkte, brach in seinem darbeiseiendem Gemüte der aufgestaute, unterdrückte Zorn sich Bahn und überflutete übermächtig seine letzte hemmende Besinnung. Der Dreistling hatte es gewagt, am lichten Sonntage seine Garage aufzubrechen und sein teueres Fahrrad zu stehlen?!! Sofort wendete er seinen Wagen und preschte zurück. Ah! Der widerliche Radfahrer war noch zu sehen, der zu verdammende Strauchdieb! Den werde er noch bekommen, und wenn es das Letzte wäre, was er täte!!! Und mit Vollgas kam er ihm rasend näher. Schon hatte er ihn beinahe, als ein kleiner Knabe unbedacht vor ihm auf die sonntäglich sonst immer ruhige Straße lief, dem Herr Frommel mit seiner Raschheit von über hundert Kilometern pro Stunde nicht auszuweichen vermochte. Die Bremsen und Reifen quietschten vergebens, und das Knäbchen blieb ohne Chance. Der gewissenlose Fahrraddieb jedoch entkam leichten Mutes.
Später, in seiner Celle des Untersuchungshaftgefängnisses, fragte Herr Frommel hadernd Gott (der ja wohl bloß Herrn Fromms Gottesvorstellung und ein gedachter Hörer seiner Frage war): "O Herr! Wie kann man denn bloß in dieser schlechten, schnöden Welt vergeben? Die Menschen KÖNNEN DAS NICHT!!!" Und er haderte noch lang. ohne Trost zu finden.“
So weit, Jungens, die Darstellung des Falles des Herrn Fromm. Na, was sagt ihr darzu?“
„Dick aufgetragen, Jan.“
„Jo, aber die Geschichte rührt ja an das, was wir immer besprechen. Unschuld und Vergebung. Und wie kann man nun de facto darmit leben? Diese Frage scheint mir die schwerste aller Fragen. Und dieser Herr Frommel ist an der Hürde angekommen. Trotz guter Gesinnung als Sonntagschrist, der des Sämannes Samen gedeihen lassen will, kann er den Dornen des Alltages keinen Geist entgegensetzen, der ihn sie zu überwinden hilft. Und so ersticken die Dornen den Samen. Leider.“
„Schön gesagt! Und wieso können die Menschen dieser schlechten Welt nicht vergeben?“
„Niemand kann zwei Herren dienen: entweder wird er den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hangen und den andern verachten (Mt 6,24).“, citierte ich.
Und Hans fuhr auf diesem Gedanken fort: „Die Menschen haben an die Dinge der Welt Ihr Herz gehängt. Sie versuchen, die Schuld zu vermeiden, indem sie sich an die alttestamentlichen Gebote und auch an die weltlichen Gesetze halten und indem sie alles reg’lementieren, normieren, optimieren, controllieren. Noch der penibelste Controlettismus ist dem Causalitätswahne entsprungen und dient nicht der Vergebung der Welt, sondern immer nur der Schuldprophylaxe zu ’m Erhalte der Welt. Und sonntags versuchen sie für eine Stunde lang, ihr Herz Gott und der Unschuld zu schenken. Diese beiden Richtungen ihres Herzens sind aber miteinander nicht zu vereinen. Sie müssen wählen, welche Richtung ihnen die wichtigere ist. Die meisten Menschen, die ich kenne, versuchen aber, zweigleisig zu fahren.“
„Jo, aber wie kann denn jemand wählen, die Welt NICHT zu wählen? Sie ist doch das Einzige, das jetzt dar ist!“
„Den Sinnen nach, ja, Werner. Auch dem wissenchafftlichen Intellecto nach, ja. Aber auch dem Geiste nach?“
„Ja, was ist denn bloß dieser Geist? Oder gar der heilige Geist? Ich dachte immer, der helfe uns!“, fragte Jan,
„Er hilft uns. Aber wobei? Bei dem bequemen Durchreisen der Welt und der Zeit nicht. Er hilft uns bei dem liebenden Entsagen der Welt, wenn wir nämlich bereit sind, Ihn uns in diesem Behufe helfen zu lassen.“, sagte Hans.
„Der Welt entsagen? Heißt das, ich müsse als Bett’ler im Drecke, in der Gosse, der Armut und der Kälte mein erbärmliches Darseien fristen? Hungern und mich von hochnäsigen Kindern verspotten und bespucken lassen?“, empörte sich Werner.
„Nein. Der Welt entsagen meint lediglich, nicht länger an die Welt als Wahrheit zu g’lauben und das an die Dinge der Welt gehängte Herz somit zu befreien und von ihnen zu lösen. Dann nämlich ist es nicht mehr das Schlimmste, wenn dir jemand den teueren Wagen stiehlt, weil dieser dann nämlich nur noch im pecuniären Sinne wertvoll ist, jedoch nicht mehr deinem Herzen bedeutvoll. Und dann brauchst du nicht mehr vor Pein und Zorn zu schnauben und gegen den Täter Schuld zu geifern.“
„Das klingt am Ende zwar wohl, aber erst am Ende. Zunächst muss eine große Frage geklärt oder gar beantwortet werden. Wenn die Welt nämlich keine Wahrheit ist, dann bin ja auch ich, zumindest so, wie ich mich deute, keine Wahrheit. Was bin ich denn aber in Wahrheit, lieber Hans? Sagst du es mir?“
„Du bist in Wahrheit Seele, Werner. So, wie wir Alle. Aber dies vergaßen oder überdeckten wir Alle, als wir uns als je „Ich“ erdeuteten und unserer Deutung Geltung erteilten.“
Daraufhin schlug Hans sich mit der Hans an die Stirne, als sei er etwes Vergessenen gerade wieder inne geworden, und sprach: „Ach, ja! Das hatte ich ja ganz vergessen! Ich bin ja in Wahrheit Seele! Wie konnte ich das bloß vergessen, wo das so wichtig ist? Aber jetzt ist es mir ja zu ’m G’lücke wieder eingefallen!“
„Jo, Werner!“, lachte Hans. „Du hast ja Recht. Ich gestehe, dass meine schiere Aussage, wir seien Seele, so nicht genügt, um sie als die Wahrheit zu erkennen. Die Logik der Herkunft meines Gedankens ist diese: Wenn die Wahrheit eine vertrauenswürdige seien soll, dann muss sie unwandelbar gut seien. Allso ist alles Wandelbare, mithin Vergängliche unwahr. Das Einzige unser, dessen wir vermuten können, dass es ewig, allso unwandelbar unvergänglich sei, ist die Seele. Ergo kann nur die Seele Wahrheit seien.“
„Daran muss ich aber noch arbeiten; das fasse ich nicht sogleich, Hans!“
„Das ist nicht schlimm. Hauptsache ist, dass wir guten Willens sind. Wieso jemand dieser meiner Logik g’laubend folgen sollte oder gar müsse, ist ja auch noch höchst fraglich. Es mag ja als logisch nachgedacht oder empfunden werden, aber so lange jemand nicht mit seinem Denken Ähnliches oder das Nämliche fände, bliebe meine Logik ihm ja nur ein auswendig zu Über-nehmendes ohne eigenes inwendiges Leben. So, wie alle Religion zumeist an die Jugend tradiert wird: als auswendige „Wahrheit“ ohne inwendigen Geist.“
„Na, ja. Die Religion ist ein Anderes. Aber der Welt zu entsagen, klingt wohl und ist wohl trefflich, jedoch leichter gesagt denn getan. Und wie sollen wir und das eigentlich denken, der Welt zu entsagen, in der wir wohnen, Hans? Du kannst ja mal eben deinem Körper entsagen; der ist ja auch keine Wahrheit, oder nicht?“
„Oh, mein Lieber. So einfach ist das leider nicht. Ich spreche ja immer nur in der Theorie. Du sprichst ja richtig: Wie können wir dem entsagen, das uns wenn auch nur scheinbar umgiebt? Ich versuche doch nur, unseren Blick theoretisch - zumindest und immerhin theoretisch! - darauf zu richten, dass wir der Welt entsagen müssen. Dies zunächst einzusehen, dünkt mir schon ein guter und wichtiger Anfang.“
„Einverstanden.  Aber wie gehen wir fürder?“
„Ich denke, wir können nicht aus alleiniger Kraft aus der Welt hinaus.“
„Gut, Hans. Und allso mit wessen Kraft?“
„Wenn das überhaupt möglich ist, dann mit der Kraft des Geistes, der uns Alle eint und liebend in sich trägt. Dieser Geist ist nichts Weltliches. Wenn etwas über die Welt hinausreicht, dann ER. Ich versuche immer und jedes Tages, nichts bewissentlich allein zu tuen, sondern bewissentlich mit IHM zu tuen. Dann muss ich mir kein Versagen vorwerfen, wenn etwas nicht so geschieht, wie ich es dachte. Zudem versuche ich, nicht zu wünschen, wie etwas zu geschehen habe. Das gelingt natürlich nicht immer, aber bitte. Ich sage mir immer und jedes Tages, es möge so geschehen, wie ER es will. Das erleichtert mir alles ungemein. Ich sammele mich dennoch in mein Tuen, will sagen: in das Tuen, das auch durch mich hindurch geschieht, aber diese meine Sammelung ist keine Wünschung, sondern eine wissende Darbeiseiung und Mittuung mit dem, das durch mich hindurchfließt.“
„Du suchst allso, ein Mittuer zu seien, um kein Täter zu seien?“
„So ist es. Der causal erdachte „Täter“ ist aus dem großen gemeinsammen Werden herausgetrennt; der Mittuende minder, weil ja schon die wahne Alleinigheit darbei nicht länger erprahlt wird. Aber ein ungutes Wort eines Gedankens allein durch ein schöneres Wort zu ersetzen, hilft nicht. Die Er-setzung hilft einzig dann, wenn darbei auch der Gedanke mitersetzt wird. Was hilft es, statt ‚Neger’ ‚Farbige’ zu sprechen, aber derweil dennoch „die blöden Minderwertigen!“ zu denken? Der gute Wille aber ist der beste Beginn auf dem rechten Wege.“
„Wir Alle sind guten Willens, lieber Hans, sonst würden wir nicht immer wieder mit dir hier zusammenkommen!“
„Jo, so ist es!“, stimmten wir Alle zu.
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.

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