Sonntag, 11. November 2012

Fußweg nach Fährmannssand 1

1. Die Teilung des Meeres

1. Die Teilung des Meeres



Eines Abends, in unserer vertrauten Runde, erzählte Jan uns mal wieder aus seinen vielen reichhaltigen Erlebnissen eine bemerkenswerte Begebenheit. Wir alle lauschten grundsätzlich gern seinen - wie ich finde - immer etwas überzogenen, jedoch stets tiefer Bewegendes enthaltenden Erzählungen.
„Dieser Tage“, hob er an, „erlebte ich etwas besonders Merkwürdiges, das außer mir und einem Taxifahrer vermutlich keinem Menschen auffiel, das ich jedoch seit dem nicht vergessen habe. Und das will ich Euch, Jungens, nun erzählen, dass es Euch zu denken gebe.
Wie üblich stieg ich vor meinem Anwaltsbureau am Leinpfade in mein telephonisch bestelltes Taxi, um zu 'm Flughafen Fuhlsbüttel zu gelangen. Darzu müsst ihr wissen, dass der Leinpfad eine enge Straße ist, die am Winterhuder Fährhaus in die Hudtwalckerstraße einmündet. Wer von dort aus dem Leinpfade weg will, der kann nur auf die Hudtwalckerstraße nach rechts einbiegen, weil der Gegenverkehr nach links durch die durchgezogene weiße Linie nur verbotener Weise zu erreichen wäre, wenn denn der stets starke Querverkehr das überhaupt zuließe. Die Hudtwalckerstraße kennt ihr ja. Diese in jede Richtung zweispurige Straße zwischen Ludolfstraße, wo früher das Fischrestaurant "Sellmer" war, und Winterhuder Marktplatz; wenn man nach rechts einbiegt, geht ’s Richtung Barmbeker Straße oder hoch zu’m Jahnring. Will man aber zum Flughafen, wie ich immer, dann muss man aus dem Leinpfade unmittelbar nach dem Einbiegen in die Hudtwalckerstraße an der nächsten Ampel nach links in die Bebelallee einbiegen. Der Weg bis zu dieser Ampel ist nur allerhöchstens einhundert Meter lang. Das heißt, dass man die nur zunächst zweispurige Hudtwalckerstraße schnellstmöglich von der rechten über die nur zunächst linke Spur wechseln muss, die dann aber sozusagen zur mitt’leren wird, weil die Linksabbiegespur unmittelbar hinzukommt. So gesehen muss man zwei Spuren überqueren, um überhaupt nach links in die Bebelallee abbiegen zu können. Bei starkem Verkehrsaufkommen auf einer solchen Durchgangs-straße könnt ihr euch denken, wie schwer das ist. Ein unsicherer Fahran-fänger hat keine Chance, das hinzubekommen. Und auch ein gewiefter Taxifahrer muss mit Druck sich über die Bahnen in die linke Abbiegespur drängeln, sondern kommt er nicht durch. So war das schon seit Jahren; ich kannte das nicht anders als so wie gerade erzählt und dachte, so müsse es seien.
Und dieser Tage stieg ich allso vor dem Hause meines Anwaltsbureaus in das Taxi ein und war voller Drang, weil ich mal wieder kurz vor knapp noch ein wichtiges Telephonat führen gemusst hatte und allso schon spät daran war. Ich sagte allso zu dem vielleicht vierzig Jahre alten Taxifahrer, den ich noch nicht kannte, alles, das er wissen musste: „Flughafen, aber dalli! Und zwar müssen wir dar vorn schon nach links in die Bebelallee; wissen Sie das?“
„Jo.“, sagte der Chauffeur, „Weiß ich alles. Wir schaffen das; keine Bange.“
Und dann fährt er mit einer Gemütlichheit los, als wollten wir zum Sonntagspiquenique. Ich reiße mich mit aller Kraft zusammen, weil wir ja noch bei mir auf dem Hofe sind und ich keine Panik auslösen will. Er aber stellt sich zu 'm Rechtseinbiegen an die Ecke des Leinpfades und wartet geradezu unverschämt und in aller Ruhe, dass ihn irgend ein von links kommender Autofahrer vorlässt und wohl gar noch hereinwinkt. Aber der Wagernstrom rauscht lückenlos wie ein vom Sturme gehetztes Meer vorbei und keine Einfahrt ist möglich. So, wie immer dort. Mir in meiner Eile platzt der Kragen und ich ranze den Fahrer lautstark an: „Mann, so wird das nichts! Hier muss man mit Druck und festem Willen sich hinein drängen. Die Leute sind alle rücksichtslos und weichen nur der rohen Gewalt!“
Er aber bleibt gelassen und sagt nur: „Keine Bange. Vertrauen Sie mir nur!“
Ich denke, ich höre nicht richtig. Der hat vielleicht Nerven! Aber einen Unfall will ich auch nicht erdrängen, allso muss ich mich zusammen-nehmen. Gebannt und atemlos blicke ich nach links. Und mit einem Male teilt sich das Meer und ein Fahrer winkt uns herein. Und unmittelbar darauf, dass wir losfahren, winkt uns ein zweiter auf die mitt’lere Spur und ein dritter auf die linke Spur zum Abbiegen. Wie choreographisch ein-studiert passt alles haargenau und gänzlich ohne Gewalt oder Druck. Der Taxifahrer lächelt mir mit einer geradezu wunderbaren Gewissheit zu.
„Mann, so wie Sie will ich auch leben!“, entfuhr es mir in meiner Beeindrucktheit.
Na, Jungens, was sagt Ihr darzu?“
„Ein netter Zufall!“, tönte prompt Werner, der einen im geistlichen Sinne tieferen Zusammenhang gern leug’nende Atheist unter uns.
„Zufall? Das ist so aussagekräftig wie zu sagen: ‚Geschehen’.“, entgeg’nete Hans.
„Wieso? Sind Zufall und Geschehen das Selbe?“
„Beinahe. Das ‚Geschehen’ nennt Alles, das geschieht und wird und an uns passiert, sprich: vorüberzieht; allso alles, was je der Fall ist. Der Zu-Fall aber ist der Fall, der zu einem anderen geschehenen Falle geschehentlich hinzufällt. Allso benennen ‚Geschehen’ und ‚Zufall’ beinahe Selbiges. Das nennt aber nicht mit, dass hinter dem Hinzufallen des Hinzufälligen keinerlei tiefere Bewandtniss oder Bedeutung stecke. Das deuten immer nur die Atheisten dar so hinein; können sie ja auch, aber diese Deutung steckt nicht in dem Worte implicit, sondern in der Atheisten Weltsicht.“
„Ho! Jetzt hast du ’s mir aber gegeben!“
„Jo, und zwar umsonst, mein Lieber!“, lächelte Hans doppeldeutig.
„Vielleicht empfinden die ohne Gott und Geist die Welt als mechanisch Deutenden eine Angst gegenüber einer tieferen oder höheren Bedeutung, und drücken sie deswegen gedanklich vor dem Bewissen weg?“, fragte ich mich im Stillen und unerhört.
„Aber was sagt ihr Anderen denn darzu?“, fing Jan wieder an.
„Ich denke, dass du die Geschichte verfälscht habest.“, sprach Hans bedenklich.
„Wieso? Das war keine Falschaussage und nicht gelogen! Ehrlich nicht! Der Strom der Fahrzeuge teilte sich wie das Rote Meer bei Moses!“
„Ja, das g’laube ich dir gern. Aber ich denke nicht, dass der Taxifahrer es dir „gezeigt“ habe, sondern mit dir gemeinsamm etwas habe geschehen lassen, vielleicht mit ihm als dem Jenigen, der den Vertrauensvorschuss gab. Aber du wirst hinter deinen uns heute genannten harten Wörtern des Zweifels an eine Möglichheit geg’laubt haben, und dieser G’laube wird vielleicht durch darmales minder harte Wörter dem Taxifahrer deutlich geworden seien. In: „Mann, so wird das nichts! Die Leute sind rücksichtslos und weichen nur der rohen Gewalt!“ höre ich eher die Rede eines Mitmenschen, der sich für das Wunder des friedlich miteinander gelingenden Werdens bitter urteilend verschließt. Aber ich kenne dich besser; solch ein Mensch bist du nicht. Im Stillen träumst du des Miteinanders, nicht des Widereinanders.“
„Du bist ein sonderbarer Mensch, Hans: Im selben Atem lobst du mir etwas an und entdeckst mich darmit zug'leich als einen prahlenden oder verfälschenden Erzähler. Wie aber ließen wir denn gemeinsamm etwas geschehen? Ging denn von uns ein Einfluss aus, der so in die mitfahrenden Leute des Verkehres einfloss, dass sie uns einließen?“
„Solcher ‚Einfluss’ klingt mir nach nur poetischer Causalität ohne Wissenschafft. In jenem erzählten Geschehen aber ward etwas Körperloses durch Euch gemeinsamm ergeistet oder belebigt! Erst durch die Gemein-sammheit des Weges oder des Auf-dem-Wege-Seiens der Beiden war dies Wunder des Einfädelns möglich. Die anderen Leute, auch die durch ihr Tuen beteiligten, bemerkten dies ja nicht bewissentlich, sondern warden geführt, zumeist ohne dies zu wissen. Aber siehe: die seltenen Bereit-willigen, die ihren Nächsten, allso einen anderen Verkehrsteilnehmer überhaupt vorzulassen bereit sind, wardn schon vor deiner heimlichen Zustimmung zu dem Geschehen dorthin geführt, auf dass es gelingen mochte!“
„Oho! Wir werden allso geführt? Wir fahren nicht über den Ring II oder nach Winterhude, weil wir durch City Nord hindurch nach Steilshoop oder Barmbek zum Arbeiten oder zum Affenfelsen zum Wohnen fahren wollen, und zwar freiwillig wollen, wohlgemerkt, sondern weil Gott uns dorthin führt, ohne uns zu fragen? Dann bilden wir uns unser freiwilliges Wollen wohl nur ein, ja? Wo bleibt denn dar die Willensfreiheit?“, begehrte nun Werner trotzig auf.
„Die Willensfreiheit wohnt nicht in einer scheinbaren Wahlmöglichheit für Sinnloses unter Sinnlosem oder für das Widersinnige, das wir wertend auch „das Böse“ nennen können, sondern in der Einwilligung in den höheren Sinn des Werdens. Diese Freiheit gedeiht erst im Vertrauen in ein von höherem Willen geführtes Werden des Guten ohne Gegenteil. Wer dies gedanklich noch nicht erschlossen hat, der deutet alles kleiner, enger, geringer und zug'leich größenwahnsinnig, bis am Ende jeder denkvermeidende Dösbartel, jedes Kind, ja, jede Ameise einen vermeintlich eigenen und eben so vermeintlich freien Willen hat. Und in der Folge dieser zurechtgedichteten Freiheit hängt die Schuld wie ein Damoklesschwert über Allen, die sich ja angeblich auch anders hätten entscheiden können.“
„Nicht privat streiten, Jungens! Nur vor Gericht!“, mahnte Jan.“
„Wir streiten ja nicht!“, äußerte Hans ohne Erregung. „Zwei verschiedene Deutungsansätze des Geschehens bewegen uns doch immer Alle, sonst wäre ja auch deine Erzählung des sich teilenden Meeres nicht so interessant für uns gewesen. Und die eine Deutung beginnt bei dem einzelnen Menschen oder überhaupt bei Einzelnem als gedachter Quelle, während die andere Deutung vom Ganzen her als der Quelle ausgeht.“
„Wir setzen allso deine Erzählung nur fort.“, stimmte Werner zu. „Ich vertrete hier die Freiheit und Hans eben die Determiniertheit, die er als wahre Freiheit anpreist wie ein Hafenrundfahrt-Capitän die azurblaue Elbe. Ich finde das spannend; aber Streit im üb’len Sinne ist das nicht.“
Auch ich fand diesen Wortwechsel so, wie Werner sagte: spannend in hohem Maße. Erlebten wir nicht unseren Willen als so frei, wie er es dargestellt hatte? Und doch mochte der Wille so uneingeschränkt frei nicht seien; das bemerkten wir nur nicht. Aber wer vermochte aus freiem Willen etwa sich zu verlieben oder wider die Schwerkraft zu schweben oder des malignen Melanoms operationslos zu gesunden oder neun gelungene Symphonien und 32 gute Claviersonaten zu componieren oder auch nur zu bestimmen, dass ihm Makrelenkuddeln in Feuerquallentunke plötzlich als wohlschmackhaft vorkamen? Alles Wollen war nur in vorgegebenem Rahmen möglich. Und wir sehnten doch insgeheim alle nach einem Werden, in das wir bereitwillig einwilligen möchten, wenn es nämlich ein gutes Werden wäre. Ich war allso gespannt, wie das Gespräch fürderfließen werde.
„Hier bemerken wir zwei Strömungen.“, fuhr Hans fort, „Die erste hat ein Ziel und erhebt den Anspruch, der einzige und eigenständige Weg dorthin zu seien. Die zweite sieht sich zu dem nämlichen selben Ziele hin unterwegs, jedoch mit der Vermutung, alleine (allso aus eigener Kraft, zu der ein Jeder die eigene Quelle sei) komme keiner dorthin.
Mein ältester Bruder hatte Krebs im Endstadium. Er sagte immer, alle Feinbehandelung tauge nichts; ihm helfe nur harte Chemie. Aber die Chemotherapie verlief ohne den gedachten Erfolg. Die Ärzte gaben ihm nur noch kurze Zeit. Er war gänzlich am Ende. Er sprach nur noch wie ein Erloschener und nicht mehr von Kämpfen und Durchhalten. Er hatte in seine Ohnmacht und somit in sein Sterbenwerden eingewilligt. Und dreier Tage später wachte er morgens auf und war: gesund. Die Hauptgeschwulst und auch die Metastasen waren fort. Die Ärzte nannten das eine ‚Spontanheilung’, die sie sich medicinisch nicht zu erklären wussten, obwohl sie das Phänomen aus der Fachliteratur schon kannten.“
„Dass die Patienten aufgeben, ist nach dem ergebnisslosen Kämpfen immer so. Aber deswegen werden sie noch lange nicht Alle geheilt. Allso wohl wieder nur ein netter Zufall.“, gab Werner zu bedenken.
„Ja, wenn sie nur so aufgeben, wie du es nennst, dann spielen sie Lass’-gehen-Capelle und sterben mit dem Körper, an den sie als Wahrheit g’lauben; aufzugeben meint, alles niederzulegen und zu urteilen, dass alles widersinnig oder zumindest sinnlos sei. Einwilligen aber, das ich nannte, ist anders; im Einwilligen wird ja nicht einer Sinnlosigheit oder gar der Widersinnigheit Geltung erteilt, sondern in einen höheren Sinn vertrauensvoll eingeflossen und der in der unsichtbaren Wahrheit schwebenden Körperlosigheit gedanklich zugestimmt.
Wenn nun die Heilung nicht durch Chemie, allso materiell, sondern durch das Vertrauen in den guten Sinn des Werdens geschieht? Denkst du, das Verlieben etwa geschehe, nur weil im limbischen System Phenyläthylamin endokrin ausgeschüttet werde? Dann wäre all deine Liebe eine hormon-materielle, mithin geistlose Sache und das so geliebte Weibchen wäre eben nur bedeutlos zufällig zu deiner Gemahlin geworden. Oder aber wird das Hormon vielleicht ausgeschüttet, nachdem du dich verliebst? Dann wäre die hormonelle Materie nur die Folge deines Verliebens. Auch das ist immerhin denkbar, nicht? Oder wird das Hormon ausgeschüttet, während du dich verliebst? Dann wäre es das geleitende stoffliche Vehiculum deines dennoch geistlichen Liebens ohne einen Anspruch, ein ja doch nur gedachtes Causalitätsverhältniss zu benennen.“
„Na, gut; wenn es das ist, was du meinst, dann bin ich nicht dargegen.“, lenkte Werner ein.
„Siehst du? Das Meer teilt sich wiederum; du hast mich eingelassen, Werner!“
„Ja? Na, ja, wenn du es so schön darlegtest, dann musste ich das ja wohl.“
„Du musstest? Deinem freien Willen zu 'm Trotze? Oder warst du nicht eigentlich schon vor unserem Sprechen bereit und allso willig, mich einzulassen?“ lächelte Hans.
„Dich? Eigentlich wohl, ja.“
„Siehst du? Diese kleine, gute Bereitschafft war die Grundlage der Freiheit deines guten Willens, mich dann tatsächlich einzulassen.“
Werner dachte dem nach, begann zu lächeln und sprach dann: „Na, gut. Es ist so, wie du sagst. Du hast gewonnen.“
„Ich? Nein, du. Und wir. Der Gedanke, den ich dir eröff’nete, mag vielleicht kampflos gesiegt haben, aber gewonnen haben wir Beide.“
Werner schüttelte lächelnd, staunend und dennoch wohlwollend sein Haupt.
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.

Fußweg nach Fährmannssand 2

2. Was Faust suchte und nicht fand

2. Was Faust suchte und nicht fand
           


„Jo!“, seufzte Werner eines Abendes bitter und galgenhumorig und leitete so ein Gespräch ein, das bis tief in die Wunde unseres an die Welt gehängten Herzens reichte. „Die Leute wünschen alle nur mein Bestes: mein Geld.“
Wir, allso Hans, Jan und ich, schmunzelten zunächst über das eigentlich dennoch eher bittere Wortspiel, doch fragte Hans nach einer Weile besinnlich sozusagen in die Tiefe hinein: „Meinst du das im Ernst? Dein Geld ist dein Bestes?“
„Jo, das meine ich im Ernst.“, knurrte Werner ungewöhnlich hart. „Und Alle haben ’s nur darauf abgesehen, dies zu ergattern!“
„Die uned’len Metallplättchen und die bunt bedruckten Sonderpapierlappen für das übergroße, ja: das irre Werteaustauschverrech’nungsgespinst der Welt siehst du als ‚dein Bestes’ an, das allso besser denn dein gutes Herz und deine Freundestreue zu uns ist?“
„Ach, Hans, ich bitte dich! Das ist doch auf einer anderen Ebene!“
„Das freut mich!“, bekannte Hans aufrichtigen Tones. „Das Beste ist allso auf mindestens zwei Ebenen, jeweils dort jedoch etwas Anderes, allso im Gesammten zweierlei.“
Erst murrte Werner leise und mit Kopfschütteln: „Hei tüdelt sik jümmers wat her…“ Aber dann sprach er lauter und deutlicher: „Sage, was du willst. Das Beste für mein Fortbestehen, ja: für mein G’lück in der harten, weiten und leider erbarmungslosen Welt ist nun mal mein Geld. Ohne Geld bist du unversorgt und ganz unten. Und das lassen dich die Leute übelst merken. Auch dann, wenn du gute Freunde hast. Auch diese können dich nicht lebenslänglich durchfüttern!“
„Sehet die Vögel am Himmel! Sie sähen nicht, sie ernten nicht, und dennoch nährt sie unser himm’lischer Vater. Schauet die Lilien! Sie spinnen nicht, sie weben nicht, und dennoch sind sie prächtiger gewandet denn König Schelomo in dessem Glanze!“, citierte ich freilich aus Mt 6,26-29, ohne religiösen Eifer zwar, doch  nicht ohne Neugierde, was der Freund darauf sagen werde.
„Diese ollen Bibelwörter kannst du dir sparen!“, winkte Werner verdrossen ab. „Das klingt ja so schön, aber die Wahrheit sieht erheblich minder blauäugig aus. Sage du den Spruch doch mal meinem Vermieter, wenn ich das Geld für die Miete nicht zusammen habe! Und meinem Grünhöker, dem Apotheker, dem Hansebäcker, und wer sie Alle seien mögen. Wenn die Alle mit sich reden lassen, dann will auch ich mich nicht lumpen lassen. Aber bis darhin sehe ich nicht ein, was mir diese Denke nützen solle!“
„Jo, Werner, immer erst die Anderen.“, stimmte Jan ironisch zu. „Das schließt das Risico des Vorkosters aus. Das leuchtet auch unmittelbar ein, führt aber leider zu nichts, wenn Alle so denken. Und genau das tuen die meisten Leute.“
„Genau das tuen sie; das sagte ich doch. Und warum soll dann ausgerech’net ich der Erste seien, der es anders tut und hält?“
„Dies Wort ‚ausgerech’net ich’ verrät Egoitis und ist höchst sonderbar verwendet, denn in dieser Sache, die wir besprechen, ist nicht gerech’net worden, sodass auch nicht Etwas darbei ausgerech’net worden seien kann, Werner, denn weder das Schicksal noch dein G’lück noch deine Stellung in dem großen Ganzen sind zu berech’nen. Die ganze Mathematik - ta matheimata - ist eine Sache der Welt und nicht der Schöpfung.“
„Wieso das denn? Durch die höhere Mathematik ward immerhin herausgefunden, dass der Kosmos aus ung’laublich vielen Dimensionen besteht!“
„Na, und? Deutest du den Kosmos als die Schöpfung? Der Raum der Schöpfung ist ein Gedächt. So, wie auch die Zeit, die Causalität, das Geld und dessen angeblichen Functionen, das Ich, die Schuld, der Tod, und derlei mehr. Die ganze Rech’nerei mit ihren Zahlen und Variablen bleibt in allen - einerlei wie vielen - Dimensionen nur seelenleere Logik und allso weltlich, denn schon eine Dimension ist ein aus der Ganzheit der Schöpfung herausgetrennter Aspect, der ihn und den Rest grenzt und sondert. Wer kam auf die sonderbare Teilsicht der Höhe als etwas Anderes denn die Breite und die Tiefe? Sah dieser Mensch nicht das ganze Bild vor Augen? Und auch schon der lateinische Name ‚Dimension’ ist verdächtig, denn er entspricht dem deutschen Namen ‚Ausmessung’. Ist die ungeteilte Schöpfung anteilig zu vermessen? Wer misst denn nicht existente Splitter darinnen ab, die nur in des Messenden eigener Deutung Einzelteile sind? Es ist allso viel eher vermessen, sie zu vermessen zu suchen! Derg’leichen Paradoxa können nur dem gottlosen Menschen einfallen, der angesichts seiner eigenen Welt die Schöpfung aus dem Auge verlor und der dann in seinem Wahne auch von dir verlangt, in Mitten der Schöpfung etwa Miete bezahlen zu müssen und ihn ‚Herr’ zu nennen. Pervers finde ich das, wenn ich ’s streng nehme, und insofern kann ich deine Verbitterung darüber durchaus nachempfinden, Werner. Aber die Schöpfung ist spirituell geschaut und in Wahrheit nur eine einzige Immension. Eine immense Immension, sprich: eine unermessliche Unermesslichheit. Und ergo ist in der Schöpfung auch nur eine Zahl: die Eins. Schon mit der Zwei begann und beginnt der Dualismus, die entzweiende Zerspaltung der Schöpfung in „gut und bös“, in „Subiect und Obiect“, in „rechts und links“, in ‚morgen’ und ‚gestern’, in „wertvoll und wertlos“, in „männlich und weiblich“, in „das Ich und die Andern“, in „reich und arm“. Die Hölle des Menschen ist die Zerspaltetheit der Schöpfungsganzheit und sein G’laube, diese Gespaltetheit sei die große Wahrheit.“
„Oho! Das sind hohe Worte, mein Lieber! Aber mit „Reich und Arm“ sind wir wieder bei meinem Besten: nämlich dem Gelde! Und mit dem muss sorgsamm gerech’net werden, wenn man nicht arm werden oder seien will. Aber du scheinst zu denken, dass das Geld auch nur eine unbedeutende Erfindung des Menschen sei, so wie die Dimensionen und die Zahlen.“
„Ja, wohl, diese Dreie, allso die Zahlen, die Dimensionen und die Moneten, sind nur Erfindungen ohne Wahrheit. Aber solche Erfindungen, die von den Erfindern bemerkenswerter Weise nicht als Erfindungen, sondern als „die Wahrheit“ erachtet warden und werden, weil sie nicht bemerken, dass sie jene erfanden oder erfinden. Darin sind sie aber in illustrer Gesellschafft. Schon Aristoteles zerteilte in seiner „Metaphysik“ die Schöpfung, ohne dass ihm dies klar war. Er erteilte seinen Sinnesvernehmungen insofern Geltung, als sie (Er-)Kenntniss des Einzelnen gewährten ‚ekasta gnoseis’. Er sah allso ‚Einzeldinge’ und bemerkte nicht, dass er die - wie er vermeinte zweifellos und klar ersichtliche - Vereinzeltheit dieser als Einzelne gesehenen „Dinge“ oder eher „Seiende“ (‚ta onta’) eigens durch sein einzeldeutendes Sehen erst gemacht hatte.“
„Du willst sagen, die einzelnen Dinge seien eigentlich nicht einzeln?“
„Ja. Zumindest vermute ich dies.“
„Und was ist denn mit dem Ding an sich, das wir nach Immanuel Kant nicht erkennen?“
„Das ist es ja! Kant war schon so weit zu bemerken, dass der Mensch in der Begrenztheit seines Vernehmvermögens nicht die Qualität eines vernommenen Dinges, sondern nur dessen Erscheinung zu vernehmen vermöge, jedoch ging er nicht so weit, die Dingheit des Vernommenen in Frage zu stellen. Vielleicht ist das „Ding an sich“ nicht zu erkennen, weil es nicht ein einzelnes Ding an sich, sondern ein unabgetrennter Bestandteil eines Größeren oder gar eines großen Ganzen überhaupt ist. Gewiss sind wir selbiger Ansicht, wenn wir einen Garten erblicken und darinnen etwa eine Kiefer und zwei Birken als im Grase stehend ansehen. Dann könnten wir ja consensitiv sagen, die Kiefer und die beiden Birken seien drei Einzeldinge in Mitten des Gartens. Aber ich vermute, dass wir mittels der sinnlich vernehmbaren, allso körperlichen Anderheit der Bäume untereinander und des Gartens als Ganzen zwar nicht umhin können, dies so zu deuten, dies aber keinen Beweis in sich trägt, dass es wahrhaftig so sei. Mir ist nämlich eben so wohl denkbar, dass die Bäume und der Garten eins seien, und die Bäume nur die „Früchte“ oder vielleicht besser: lebende Hervorbringungen des Gartens sind, so, wie etwa die Haare Hervorbringungen der Haut seien mögen, in Wahrheit aber mit der Haut und dem ganzen Wesen eins sind.“
„Und du bist sicher, dass du gesund bist?“, staunte Werner beinahe erschrocken.
Hans lachte köstlich amüsiert und bekannte dann: „Nein, überhaupt nicht! Ein Psychologe könnte mir nun, wenn er wollte, attestieren, ich sei in der Separations- und Individuationsphase, besonders in der Differenzierung, wenn zwischen Subiect und Obiect und zwischen innen und außen zu scheiden gelernt wird, zu Schaden gekommen oder infantilistisch haften geblieben.“ Und er lachte erneut, bis er wieder ruhig sprechen konnte. „Aber du siehst, wie und in welchem Maße wir unserer Anlage gemäß geneigt sind, unserer trennenden Deutung des Vernommenen zu g’lauben, als sei sie keine Deutung, sondern Wissenschafft oder gar Erkenntniss, dass wir jemanden, der dies bezweifelt, als krank erachten.“
„Anders kann ich mir das auch nicht denken!“
„Jo, unser Denken ist begrenzt. Du kannst dir so, wie auch ich, Manches nicht denken; verzeih! Dies sage ich nicht als Schmähung wider dich. Vorhin erst konntest du dir nicht denken, dass du der Erste seien mögest, der mit der Bezweifelung des Geldwertes für dich beginnen möge. Du erinnerst das?“
„Ja, ich erinnere das. Es stimmt, was du sagst.“, bestetigte Werner sachlich und ohne Zorn.
„Wenn du der - aus deiner Sicht - Erste bist, dann weißt du, dass du kein Mitläufer bist, denn diese sind nie der Erste. Wenn ein Freund zu dir kommt und dich bittet, mit ihm gemeinsamm etwas Gutes zu tuen, fragst du ihn dann: „Warum ausgerech’net ich?“ Diese Frage käme doch eher aus dem Munde eines falschen oder doch zumindest nicht hilfsbereiten Freundes, nicht? Ich bin vielleicht der Erste, der die Trennung zwischen Subiect und Obiect und darmit auch zwischen erlebtem „Innen“ und „Außen“ theoretisch aufhebt und auch nicht darvor zurückschreckt, den berühmten Aristoteles als ungeheilten Menschen in von ihm zerspalteter Schöpfung zu kategorisieren. Dass nun auch du der Erste seien mögest, ergiebt sich aber aus dem Unleugbaren, dass du immer als der Erste gefragt bist. Wenn du der Erste bist, mit dem etwas Gutes geteilt wird, dann magst du auch eben so wohl der Erste seien, der etwas Gutes mitteilt.“
„Das stimmt ja nicht! Ich bin doch nicht der Erste, mit dem etwas Gutes geteilt wird! Immer sind schon Andere vor mir an der Reihe!“
„Und wohnst doch in einem der schönsten Wohngebiete Hamburgs …“
„Jo, aber nur zu ’r Miete!“, unterbrach Werner trocken.
„… und unterhältst ein Bureau in der Bellevue! Der scheele Blick erspäht nie das Erste, sondern immer etwas um die Ecke. Du bist ja nicht der erste gezeugte und geborene, scheinbar einzelne Mensch. In der Historie der scheinbaren Zerspaltung der Schöpfung kann Keiner sich als den Ersten finden. Was hindert dich aber, dich als den Ersten hier und nun zu deuten? Den Ersten unter Gleich-Ersten? „Wer ist denn mein Nächster?“, fragte ein Pharisäer, der ebenso nicht der Erste zu seien wünschte, der einem Bruder die Hilfe gewährte. Auch du versuchst, dich hinaus zu winden. Wenn du die Hürde bemerkst, dann bist du der Erste, der sie zu überwinden versuchen sollte. Statt dessen versuchst du, aus dem rechten und dir zugewiesenen Platze und sozusagen nicht archimedisch, doch egomanisch dich aus den Angeln der Schöpfung auszuheben. Das kannst du zwar tuen, aber dann musst du auch lange, lange vergeblich warten, bis du dich am rechten Orte erkennst. “, commentierte Hans.
„Archimedes wollte mittels eines festen Puncts aber nicht einen Menschen oder das Ich, sondern den Kosmos aus den Angeln heben.“, gab ich zu bedenken.
„Du und die Schöpfung sind eins und selbig, auch wenn du denkst, du seiest „innen“, und „außen“ sei die Welt. Doch diese Welt und jene Trennungsdenke sind nicht wahr.“
Dies Wort bewog uns alle zu einer längeren, bedächtigen Stille, denn so hatten wir Alle das noch nicht gesehen.  Und so fragte ich Hans denn: „Die Welt ist nicht die Schöpfung. Das gefällt mir wohl, was du sagst, weil die Welt ja vergänglich ist und die Schöpfung nicht. Und dann sind so viele Welten, wie Menschen sind, hingegen alle Menschen in der einen und einzigen Schöpfung verbleiben. Ist die je eigene Welt aber das Ich? Und denkst du, es sei dies Ich, das die Welt im Innersten zusammenhält, was Doctor Faustus zu suchen bekundete und doch nicht fand?“
Das schien Hans wohl zu gefallen, was ich gesagt hatte, obwohl ich ihm ansah, dass er das zunächst nicht gänzlich so gemeint hatte, und er nickte freudig zustimmend: „Ja! Wunderbar erhört! Aber im letzten Punct auch: nein. Das Ich ist zwar die erdeutete Mitte der je eigenen Welt, jedoch was Faust zu suchen vorgab, obwohl das leider im weiteren Verlaufe des Dramas vergessen ward, nämlich was diese im Innersten zusammenhält, das ist die Schuld.“
„Die Schuld?“, staunte Jan.
Werner hingegen war heftig zu verurteilten bewogen: „Jetzt redest du nur noch Unsinn. So ein Gewäsch!“ Er zürnte geradezu, ohne dass mir ersichtlich war, weswegen er auf dies Wort ‚Schuld’ hin der Maßen zürnte. Vielleicht lag hier der Grund, wieso er sein Geld als „sein Bestes“ wertete, weil er die Schuld oder etwas ihm Namenloses unbewissentlich hasste, das die beunfreiende Art der Welt war, und das Geld ihn aus ihr loskaufen sollte?
„Was die Welt zusammenhält, das ist die Schwerkraft. Ohne diese stöbe Alles auseinander.“, setzte er hart und dogmatisch sich und uns fest und schien allso auch seinerseits nicht zu wissen, wieso ihn die Schuld als das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, so ärgerte.
„Wenn du unter ‚Welt’ das stoffliche All verstehst…“, ging Hans ruhig darauf ein, „… dann mögen wir wohl über das ‚Schwerkraft’ genannte Wirkverhalten der Massen zueinander sprechen. Aber deine Welt ist das All nicht, denn diese ist der kleine Teil, den du von dem Alle vernimmst, vernommen hast, dir deutend zurechtlegst und zurechtgelegt hast. Und auf dieser Ebene lebt ein jeder in seiner eigenen Welt, in der die Schwerkraft und die Masse letztlich unbeachtet und ohne Belang bleiben.“
„Trotzdem ist nicht die Schuld das, was meine Welt in ihrem Innersten zusammenhält!“, bestand Werner auf seinem Gedanken.
„Sondern was?“, fragte Hans ihn. „Vielleicht das Geld?“
„Wieso denn das?“
„Weil du immer so darüber sprichst, wie über das Wichtigste der ganzen Welt. Vor noch nicht einer Stunde sagtest du noch, das Geld sei „Dein Bestes“; erinnerst du das?“
„Jo! Aber das war doch nur eher ein Wortspiel!“
„Das soll mich freuen, Werner; ehrlich. Es klang aber minder spielig, doch eher bitter, ja: verzweifelt, mein Lieber!“
„Nicht privat streiten, Jungens! Nur vor Gericht!“, mahnte Jan.
„Tuen wir ja nie; das weißt du doch wohl.“,  beteuerten Werner und Hans, jeweils mit der rechten Hand auf je ihrem Herzen. Dann blickten sie einander an und mussten beide lächeln. Die Beiden waren einander wirklich lieb, und das seit vielen Jahren, allen ihren noch so bunten oder irren Weltdeutungsverschiedenheiten zu ’m Trotze.
„Aber dann lasst uns doch den Gedanken in Ruhe und freundlich durchdenken.“, riet Jan. „Was ist denn die Schuld, dass sie die Welt im Innersten zusammenhalte? Hans, du meinst das doch nicht physikalisch, sondern irgendwie gedanklich, nicht?“
„So,  wie du sagst, meinte ich es.“, nickte Hans. „Gedanklich, weil auch die Welt nur ein Gedankengefüge ist.“
„Aber was ist die Schuld denn, wenn wir sie so sehen? Dann meinst du ja auch nicht ‚Schuld’ im iuristischen Sinne, oder?“
„Nicht iuristisch, stimmt.“
„Ja, was ist sie denn?“
„Die Schuld ist der wehe Fußabdruck des Nichts.“, schmunzelte Hans.
„Jo!“, lachte Werner auf. „Nachdem Es uns kraftvoll in den Mors getreten hat!“
Alle lachten.
Und Jan fragte schmunzelnd staunend: „Oh! Inwiefern tritt uns das Nichts denn aber in den Allerwertesten? Erkläre das doch bitte genauer! Ich als Iurist wüsste zu gern, ob hier vielleicht ein Straftatbestand vorliege.“
Hans gab ihm die Erklärung, indem er lächelnd sprach: „Ist ja nur symbolisch gemeint. Das Nichts ist ja nicht Nichts, sondern mindestens etwas Gedachtes. Im Falle der Schuld im Plural, allso der Schulden auf der Banc, ist das Nichts eine zu zahlende Summe, allso ein Etwas, das (noch) nicht dar ist, aber dar seien oder werden soll. Und im Falle der Iurisprudentia - nicht, Jan? - ist sie ein ähnliches Soll, denn der als schuldig erachtete Täter des „Bösen“ soll dies büßen, sprich: wiedergutmachen, wenn das denn möglich ist. Das wäre etwa eine Schadensersatzzahlung. Aber auch die ist (noch) nicht dar und soll es erst werden. Aber ist der wenn auch von Sachverständigen begutachtete und attestierte Schaden ein Etwas? Er ist ja kein Ding und erst recht kein Geschöpf Gottes, sondern lediglich eine gewertete Qualität, allso ein Nichts in Tüten sozusagen. Allgemein menschlich ist die Schuld eine Erfindung, die sich auf den G’lauben an die Wahrheit des Schadens stützt. Wie viele Menschen g’lauben wie innig an diese Wahrheit, die diametral entgegengesetzt zu der Wahrheit ist, die der Christus ist. Und wie viele Menschen g’lauben, sie g’laubten an den Christus, der die Wahrheit ist, und g’lauben zugleich und doch viel stärker an die Wahrheit des Schadens und an die der Schuld? Und ihre Welt wird insofern im Innersten durch diese Schuld zusammengehalten, weil sonst kein Grund bestände, diese tote Welt nicht gegen die einzig lebende Schöpfung gedanklich auszutauschen. Aber sie suchen ein unmögliches G’lück in der vergänglichen Welt und kommen immer nur zu einem wie auch immer gedeuteten Schaden, weil ihre Welt vergeht. Was aber ist der Schaden daran, dass etwas Vergängliches vergeht und vergangen ist? Nur der eitele Traum des Menschen, der das Vergängliche noch für die Erfüllung seines weltlichen G’lückstraumes zu nutzen wünscht, deutet einen Schaden in diesen Vorgang hinein. Allso sind der Schaden und die Vergängniss in Wahrheit nichts. Und dennoch wird uns so weh um ’s Herz, wenn etwas vergangen ist, daran wir unser Herz gehängt haben. Nicht?“
„Mensch, Hans! Du hättest Cancelprediger werden sollen. So schön wie du hat mir das noch nie jemand erklärt. Ehrlich!“, bekannte Werner ohne Spott.
„Oder Anwalt! Du könntest den härtesten Vorsitzenden vor Gericht weichreden!“, stimmte Jan bei.
„Das freut mich wirklich! Aber siehe: dein Bestes, Werner! Angesichts des unbedingten Scheiterns der vergänglichen Welt ist dein Bestes nicht doch vielleicht etwas Anderes denn der tote Mammon?“
Werner bedachte gutmütig die so gestellte Frage, kam aber zu keiner Antwort. Statt derer blickte er Hans erwartend an.
Dieser sprach darauf: „Dein Bestes ist dein gutes Herz.“
„Ja? Und was nützt mir das gute Herz?“
„Das gute Herz ist wichtiger denn die bunten Scheine, weil es der Sitz der Freude ist. Ohne den Mammon vermagst du dir keine Dinge zu kaufen und die Rech’nungen nicht zu begleichen, hingegen kannst du dich derweil mit deinem guten Herzen dennoch an Liebe und an Freundschafft erfreuen. Mit dem Mammon vermagst du dir alles begehrte Weltliche zu kaufen, auch gar Weiber, welche deinen Sinn vielleicht betören oder bis zu ’r Raserei erregen, über die sich jedoch nur dein gutes Herz freuen kann. Dein größter Schatz ist dein gutes Herz, mein lieber Werner. Weißt du, als deine Mutter deinen Hunger noch mit ihrer Milch stillte, gab sie dir nicht nur die buchstäblich mater-ielle Milch, sondern auch immaterielle Freude. Sie freute sich, dass du dar warst und sie deinen Hunger zu stillen vermochte, dass es dir gut sei. Die Menschen wissen nur unvollkommen, was die Liebe ist, aber in der unschuldigen Freude, mit jemandem zu beider Wohl teilen zu können, kommen sie ihr schon recht nahe. Wenn du aber nun nur weibliche Körper mit üppigen Brüsten wünschtest, deren Freude, mit dir das Leben teilen zu können, dir einerlei wäre, dann hättest du in Deiner Kinderzeit nur das Stoffliche, nicht jedoch das gute Herz gewonnen. Wäre das nicht armsälig?“
„Jo, Hans! Wenn du das so schön sagst, dann wird’s wohl stimmen.“, sprach Werner, aber seine trübe Miene heiterte sich dennoch nicht auf.
„Du sagtest nicht, was Jemandem sein gutes Herz nütze, um aus der Schuld zu gelangen, Hans.“, erinnerte ich. „Vielleicht dünkt das Geld Werner als sein Bestes, weil er sehnlichst versucht, sich mit ihm von dem loszukaufen, das die Welt im Innersten als sein Gefängniss zusammenhält? Aus der Schuld endlich freizukommen, erschiene mir als das Beseligendste überhaupt, und wenn Geld das Mittel darzu wäre, dann deuchte es auch mir als das Beste oder als mein Bestes.“
Alle bedachten schweigend dies Wort. Nur Werner blickte mich zunächst erstaunt und dann wie erkennend lächelnd an, nachdem er meine Sprechwörter in seine Denksprache übersetzt hatte, die ich nicht kannte und nur vermutete.
„Das ist gut, was du sagst, wirklich gut!“, lobte Hans. „Du at’mest der Sache noch etwas mehr Leben unter. Aber es widerspricht nicht dem schon Gefundenen, nicht? Das Beste ist dennoch Werners gutes Herz, weil er sich ja letztlich doch nicht aus der Schuld freizukaufen vermag, sondern wahrhaftig nur freizulieben.“
„Schön, Hans. Aber wie erlöst ihn das gute Herz aus der Schuld?“
„Das weiß ich doch nicht! Aber wenn ihn überhaupt etwas erlöst, dann gewiss nicht ohne sein gutes Herz.“
„Einverstanden, Hans. Und es ist nicht schlimm, dass auch du mal etwas nicht weißt, denn auch sich freizuwissen ist eben so wenig möglich wie sich freizureden oder freizukaufen.“
„Oh, du Schlimmer! Das treibt mir redlichem Red’ner doch geradezu die Schamesröte in ’s Antlitz!“, entsetzte Hans sich theat’ralisch.
„Bist du sicher, dass die Röte nicht vom roten Weine kommt?“, witzelte Werner.
„O nein! Eher vom Mangel an Weißwein!“, conterte Hans.
„Dann schnell nachgeschenkt! Kellermeister!“
„Zu ’r Stelle!“
„ Walte er seines Amtes!“
„Ja, wohl, Sire.“
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.

Fußweg nach Fährmannssand 3

3. Heidenangst

3. Heidenangst
                    


Eines anderen Males kam Jan verspätet zu uns herein und fragte uns brummig: „Habt Ihr das schon gehört oder gelesen? Ein Knacki erstach seine Gattin im Hafturlaub. Und dieser Mann ist natürlich (obwohl das eigentlich nicht der Natur g'leich seien sollte!) ein Transfinitier, der bei uns schon wegen vorsätzlicher gefäärlicher Körperverletzung einsitzt. Es ist aber auch wirklich trau’rig, dass die erbärmlichsten Ausländer-Clichés so oft und immer wieder so viel Stimmt-Effect aufweisen!“
„Langsamm, langsamm, Jan! Nun setze dich doch erst mal hin, at’me tüchtig durch und erzähle uns dann in aller Ruhe und vom Beginne an!“, lud ihn Werner gutmütig ein.
Und Jan setzte sich, at’mete tief durch fing allso an: „In der NZ stand zu lesen, dass ein siebenundvierzigjähriger Mann aus Gramdrangbrandograd in Transfinitien, der bereits wegen gefährlicher Körperverletzung einsitze, Hafturlaub bekommen habe, um bei der anstehenden Zwangsversteigerung seines Hauses zugegen seien zu können, darbei aber in Streit mit seiner vierzigjährigen Gemahlin geraten sei, die er auf offener Straße vor dem noch ge-meinsammen Hause erstochen habe. Er habe sich nach der Tat widerstandslos von der von Nachbarn zu Hilfe geholten Polizei festnehmen lassen. Die Frau und er hinterließen acht Kinder zwischen drei und dreiundzwanzig, die nun mehrheitlich in ’s Heim kämen, weil er aus dem Knast sich nicht um sie kümmern könne. Die Gemahlin habe wohl beabsichtigt,  ihn und die Kinder eines anderen Mannes halber zu verlassen, sodass er in Zorn geraten sei und die Controlle verloren habe. Aber das ist noch nicht Alles, denn er habe ja schon wegen einer vor zwei Jahren begangenen gefährlichen Körperverletzung inhaftiert gesessen. Darmales habe er eine Eisenstange genommen und eben’ Falles auf offener Straße so lange auf die Freundin seines ältesten Sohnes eingehauen, bis Beamte der Polizei ihn überwältigt hätten. Angeklagt worden sei er vor Gericht wegen versuchten Mordes, was aber nur als gefährliche Körperverletzung durchgekommen sei, weil das Gericht sich nicht habe vorstellen können, dass er auf offener Straße jemanden habe töten wollen. Das können sie im jetzt anstehenden Process jedes Falles nicht wieder zu behaupten versuchen.“
Wir alle saßen zunächst unter der Last einer solchen Erzählung bedrückt und ich fragte mich, was der sonst so auf Ausgleich und das Positive am Menschen bedachte Jan uns eigentlich zu sagen bezweckte? Gedachte er uns zu schockieren? Wohl kaum. Suchte er, bei uns eine Gesinnung pauschal wider die „Ausländer“ zu erzeugen? Gewiss nicht. Das wäre auch aussichtslos gewesen, wie er üb’rigens genau wusste. Und Werner nahm mir die allso offene Frage ab, indem er seinerseits äußerte: „Seit wann hast du denn etwas gegen Ausländer? Das wusste ich ja noch gar nicht!“
„Ach, Werner! Natürlich nicht allgemein oder pauschal. Du müsstest mich doch wohl besser kennen. Verbrecher und Delinquenten sind in allen Nationen zu verzeich’nen, aber eben so wohl Gutmenschen. Ich habe nichts dargegen, wenn oder dass überführte Straftäter aliener Nationen abgeschoben werden. Aber leider bringt das Abschieben eben so wenig wie das so oft geforderte Wegsperren, einerlei welcher Volksanteiligheit die Verbrecher nun gerade sind.“
„Na, dann bin ich ja einiger Maßen beruhigt. Aber wozu denn erzähltest du uns diese böse, ja: widerwärtige Geschichte, Jan?“
„Mich berührte beim Lesen dieser Sache neben den üblichen iuristischen Redewendungen der Gedanke der Angst. Während des Lesens ward mir plötzlich klar, dass Angst noch hinter allen Motiven steckt und wirkt, aber bei den Tätern wie bei den Opfern und den Iuristen. Wenn jemand „Wegsperren der Intensivtäter!“ fordert, wie wir dies zuletzt oftmales hörten, dann steckt zuerst nicht Bosheit, sondern eine im Untergrunde unerschlossene Angst darhinter. Aber eben so war eine zu verdrängen versuchte Angst der Hintergrund der Erstechung, die ich Euch erzählte. Der Täter war in Angst um seine Kinder und um sein Weltverständniss. Aber weder der Täter noch die Forderer des Weg-sperrens bekennen, dass Angst das Movens zu ihren Taten oder Äußerungen war oder ist, sondern kleben an den Obiecten der Tat oder des Forderns. Und so kommen sie nicht zusammen, obwohl sie an der einen und selben Krankheit leiden, nämlich an der Angst.“
„Oh, Jan! Das ist aber ein wunderschön tief reichendes Wort! Du rührst an der Angst, von der tatsächlich die meisten Menschen nur durch Weglaufen – auch thematisch, wenn sie die Angst auf die sie ihnen eröff’nenden Dinge, Menschen oder Umstände ab-zuschieben versuchen, indem sie diese als obiectiv bedrohlich darzustellen suchen – geheilt zu werden versuchen.“, sagte Hans. „Leider heilt Weglaufen nicht.“
„Inwiefern ist es denn ein Weglaufen vor der Angst, wenn jemand den Grund seiner Angst, oder du sagtest bemerkenswerter Weise: den Eröff’ner seiner Angst thematisch so handelt, als dass dieser Eröff’ner obiectiv bedrohlich sei? Das will mir auf Anhieb nicht einleuchten. Ist ein gefährlicher Täter denn keine Bedrohung? Ich meine, das Bedrohliche zu nennen ist doch gerade eine Thematisierung des Bedrohlichen und kein Weglaufen darvor, oder? Legst du uns deine Gedanken mal aus?“, bat Jan.
„Gern. Ich meine, dass durch das Darstellen eines Dinges, Menschen, Umstandes als obiectiv bedrohlich so getan wird, als seien diese der Grund der Angst, und dieser somit nicht in den Angstempfindenden zu suchen. Allso lenken sie von sich als dem Träger des Grundes der Angst, nicht des Eröff’ners, ab. So laufen sie allso bildlich gesprochen vor dem eigentlichen Grunde der Angst weg und suchen, die letztlich austauschbaren Eröff’ner der Angst statt als Anlass als deren Grund dar zu stellen, der sie nicht sind. Und durch diese Projection nach außen bleiben sie in ihrer Angst ungeheilt. Das wäre wie der Versuch, einen Krankheitserreger auszurotten, nur um sich nicht impfen lassen zu müssen. Aber das eigentliche Problem ist die Ansteckbarheit des Menschen und nicht der an sich unwirksamme Erreger.“
„Gut. Danke.“
„Wieso gut?“, widersprach Werner. „Denkt Ihr Dreie denn wirklich, der Mörder seiner Gemahlin und der Mutter seiner acht Kinder sei eigentlich kein Mensch üb’ler Gesinnung und habe nur gewisser Maßen aus Versehen, weil gerade zufällig eines Males in Angst, und nur ausnahmsweise mit dem Messer gehandelt und zugestochen? Der macht das immer so! Das bewies er uns schon durch seine zuvorige Tat, für die er schon verurteilt worden war.“
„Und wenn? Dann ist er eben nicht zufällig immer in der einen und selben Angst, die durch stets die g'leichen oder zumindest vergleichbaren Auslöser eröff’net wird. Und in der Angst wird er so, wie ein kleines Kind, von Abwehrtrieben und Fluchttrieben bewegt, und wenn der Abwehrtrieb von ihm erhört und eine Waffe zu greifen gefunden wird, dann geschieht das so, wie es uns von Jan erzählt worden ist.“
„Und was tut so ein erwachsenes Kind gegen die Angst? Nichts! Und schuldig sind nach seinem Dünkel immer die Anderen, und zwar bestens die Jenigen, die er niedersticht! Die haben das dann eben verdient, nicht? Das ist doch keine Entschuldigung des Täters, sondern dessen eigengerechte Schuldzuweisung zu den Opfern! Der soll erst mal seinerseits etwas gegen diese seine Angst der Unterbelichteten unternehmen! Es ist ja doch nie nur die Angst, die solch ein krankes Kind von mitt’ler Weile siebenundvierzig Jahren immer noch zu grausigen Gewalttaten bewegt, sondern offensichtlich auch massive Dummheit! Und gegen belehrungsresistente Dummheit hilft nur Strafe! Solche Dummheit ist unheilbar und gehört bestraft. So ist das, sage ich Euch!“
„Jawoll, Herr Obersturmbannführer! Auch wir plädieren für die Todesstrafe!“, caricierte Jan strammen Tones den gewissenhaft gewissenlosen Cadavergehorsamm der Schergen.
„Oha!“, entfuhr es Werner. „War ich so schlimm?“
Wir lächelten. „Klang beinahe so. Aber nun ist’s ja wieder gut.“
„Noch nicht gänzlich, Freunde.“, bekundete Hans. „Ich finde, dass Werner ja vielleicht etwas stark, aber nicht gänzlich unrichtig sprach. Wir können doch mit unserer Einsicht in die Angst als Beweggrund solcher Täter wie auch der Forderer, jene wegzusperren oder gar zu töten, die Sache nicht auf sich beruhen lassen, denn erstens bleibt der Angstkranke ungeheilt und zweitens bleiben die sich vor ihm Ängstenden eben so ungeheilt, einerlei, ob solche vermeintlichen „Täter“ nun weggesperrt werden oder in Sicherungsverwahrung kommen. Die Findung der Angst als erstem Movens soll uns den Stachel nehmen, den Täter und dessen Verurteiler als nur gefährlich oder böse zu verurteilen. Aber die Nicht-Verurteilung ist das unumgänglich wichtige erste Wort in dieser Sache, nicht jedoch das eben so wichtige letzte.“
Und er legte eine Pause ein, um die Spannung zu erhöhen. Dies gelang ihm, bis endlich Jan erwartungsvoll fragte: „Und welches ist das letzte Wort?“
„Vergebung. Dieser Name nennt mehr denn eine nur sprachliche Verzeihung, eine Fort-Zeihung der Schuld. Wir mögen zug'leich eine Löschung des Feuers der Angst hinzudenken, dann kommen wir zu der Vergebung. Diese ist allso die doppelte Fort-Gebung der Schuld wie der Angst. Die Angst des Gewalttäters aber vermag ich nicht zu löschen, hingegen zu unserer Heilung aus der Angst hinaus ein Wort zu sagen. Zunächst muss der Zusammenhang zwischen Angst und Schuld offenbar werden. Ist er das?“
Und er blickte forschenden Auges in die traute Runde. Er sah an uns wohl mehr Fragezeichen denn nickendes Wissen, daraufhin er fortfuhr: „Wenn vergeben werden soll, dann muss über die Schuld im iuristischen Sinne gedanklich hinausgegangen werden. Der Iurist stellt Schuld dann fest, wenn ein Gesetz gebrochen ward und dem Täter dieses Brechens volle Schuldfähigheit attestiert oder anders gesagt die freiwillige Möglichheit des Nicht-Brechens unterstellt wird. An dieser Feststellung der Schuld muss der Iurist aber nicht emotional beteiligt seien; sie geschieht sachlich an den Facten und den auf sie anzuwendenden Paragraphen des Gesetzestextes. „Verbrecher ist, wer ein Verbrechen begeht. Verbrechen ist der Verbruch bestehender Gesetze.“ So leidenschafftslos, wie im Lexikon. Oft werden Gesetzesbrüche vor Gerichte besprochen, die menschlich gesehen uninteressant sind, ja: überhaupt nicht als Verbrechen angesehen werden. Dieser Tage ward jemand festgenommen, der nachweislich ohne niedere Beweggründe Euthanasie geleistet hatte. Die Anklage nennt das „Tötung auf Verlangen“, was per legem eine strafbare Hand’lung ist. Das impliciert, dass der „Täter“, obgleich er nicht aus schnöden Motiven wie etwa Habsucht oder Rache, sondern aus Menschenfreundlichheit handelte, dennoch für ein so genanntes Tötungsdelict verurteilt werden wird, ohne dass wir ihn deswegen als schlechten oder bösen Menschen erachten müssen. Vielleicht findet gar auch der Vorsitzende des Processes diesen dem Gesetze nach Schuldigen eigentlich im menschlichen Sinne nicht schuldig, und der von ihm sachlich Verurteilte genießt womöglich die Sympathie des Volkes und die Hochachtung der Befürworter der Euthanasie. Gut! Wenn wir nun aber menschlich über einen Gesetzesbruch sprechen, der die Gemüter erhitzt, dann kommt emotionale Färbung des Falles hinzu. Mit einem Male ist der Verbrecher nicht nur jemand, der eben irgend ein oder welche Gesetze verbrochen hat, sondern er ist ein Scheusal, das man wegsperren oder gar töten solle. Was ist allso hinzugekommen? Die Angst der Betroffenen. Der Raser überfährt ja vielleicht auch meinen besten Freund, der Vergewaltiger nimmt sich als nächste vielleicht meine Tochter, der Dieb bestiehlt vielleicht auch mich, und vor alle Dem sind wir in Angst, besonders dann, wenn der Täter vorsätzlich handelte und keine Reue zeigt. Und aus dieser Angst weisen wir Schuld nicht sachlich iuristisch zu, sondern gewisser Maßen emotional vergiftet. Wollen wir diese Art der Schuld vergeben, müssen wir zuvor unsere Angst mitvergeben.“
„Leuchtet ein, Hans. Aber diese Angst in uns ist doch natürlich und nicht illegitim oder gar krank. Niemand kann von uns verlangen, dass wir uns sorglos überfahren oder unsere Töchter vergewaltigen lassen. Was sollen wir dar allso vergeben?“
„Zu verlangen ist das gewiss nicht; ich stimme dir zu, Werner. Aber so meinte ich das auch nicht. Dennoch erachte ich die Angst als eine Art Krankheit. Und so sind wir hier an der Schwelle zu der Frage, was wir in Wahrheit sind?“
Die Frage riss plötzlich die Coulissen um uns fort, sodass die Weite der Schöpfung offen war, so empfand ich. So, wie wir Hans kannten, ward gerade eine theoretische Enthebelung unserer Welt vorbereitet. Die andern Beiden aber waren noch arglos und dachten, sie wüssten, was der Mensch sei.
„Fragst du das ernstlich, Hans? Was sind wir? Was willst du hören? Wir sind Einwohner dieser Stadt, Männer, Menschen, deutsche Staatsbürger, deine Freunde!“
„Jo, Werner. Aber sagt dir das, wieso du Angst als legitim und nicht als krank erachtest?“
„Ach, so, auf der Ebene meinst du das. Na, sage du es uns!“
Hans blickte mir in ’s Gesicht, sah in meinen Augen geneigte Zustimmung und lächelte. Dann sprach er: „Wir sind die Erfinder unseres Iches und mit diesem auch des Todes, des Mangels, der Angst und der Schuld.“
Starker Tobak. Wir schwiegen und warteten der Wörter, die noch kämen. Hans fuhr fort: „Wir denken uns als Ich. Jeder empfindet sich als „ich“ und denkt, er sei „ich“ und er vermeint, dies sei die bewiesenste Wahrheit, und doch weiß er sie nicht und wissen wir diese alle nicht. Wir haben Anfangs, nach unserer Gezeugtwerdung, nichts gelernt und beginnen wisslos zu vernehmen und zu deuten. Und zugleich g’lauben wir unseren Deutungen, als seien sie Offenbarungen der Wahrheit. Sehen wir uns dies en détail an. Der Muslim g’laubt voller Zweifellosigheit, der Islam sei die einzig wahre Religion, derweil der Hindu mit der sonderbarer Weise selben Zweifellosigheit g’laubt, der Hinduismus sei der einzig wahre Weltdeutungsg’laube. Und der Katholik g’laubt nicht nur, die beiden Anderen seien verblendete Narren oder gar irre Blasphemiker, sondern zudem, seine angeblich heilige katholische Kirche sei die einzig wahre und echte Religionsge-meinschafft überhaupt. Aber fragen wir einen Mormonen, dann wird er uns bekennen, dass allein seine Kirche die einzig wahre sei. Aber all Diese irrten doch, schwört uns der Zeuge Jehovas, denn allein seine Kirche sei die einzig wahre! Fragen wir diese G’läubigen nach Plausibilisierendem, hören wir stets den Verweis auf ein angeblich heiliges Buch, darinnen die Wahrheit zu lesen stehe, darauf ihre Gemeinde, Kirche, was auch immer sich stütze. Fragen wir nun aber einen Atheisten, der solche Bücher verlacht, bekommen wir zu hören, dass die Religionen allesammt Unsinn seien, weil Gott nicht existiere und genau dies die eigentliche Wahrheit sei. Woher er dies nun wiederum wisse, sagt auch er nicht; er verweist auf angebliche Rationalität, eine eingeengt geistlos gedeutete Wissenschafft und seine fünf Sinne. Diese vermitteln zwar keinen Gott, beweisen aber dardurch nicht dessen Non-Existenz, wie sie ja auch keinen Geist, keine Freundschafft, keinen Urknall, keine Liebe, keine Zukunft, kein Erbarmen, kein Vertrauen, keine Kraft, etc.  beweisen, an deren Seien wir dennoch g’lauben. Der Atheist g’laubt an die Non-Existenz Gottes, so, wie ein Deist oder Theist an dessen Existenz. Aber wissen tuen dies Beide auf der Ebene nicht. Trotzdem sind alle mit jeweils ihrem G’lauben stets zweifellos auf der richtigen Seite. Und so auch wir, wenn wir glauben, wir seien je „ich“. Wie kommen die Menschen zu ihren G’laubensinhalten? Es wird ihnen von Menschen, denen sie glauben, so gepredigt; immer und immer wieder. Und wir vernehmen über unseren Gefühlssinn unseren bewegten Körper, deuten den als „Ich“, und vernehmen über den Gesichts- und den Gehörssinn, dass noch mehr bewegte Körper uns scheinbar „außen“ umgeben. Daraus schließen wir, dass die Anderen diese bewegten Körper seien, und zwar jeder einer für sich. Und jeder dieser bewegten Körper denkt sich als „ich“ und im räumlichen Sinne als „innen“. Darzu wird dualistisch das Gegenüber „außen“ und „die Anderen“ erdacht. Das ist schon unsere ganze Wissenschafft über uns. Ist das nicht viel zu wenig, um es ‚Wissen’ nennen zu können? Wir wissen nicht, dass die Denkung „Ich“ das Ergebniss einer deutenden Wertung ist, das wir mit dem in unserer Gesellschafft üblichen Namen benennen. Die Wertung grenzt das vermeintlich Wertvolle gegen das ver-meintlich minder Wertvolle ab; so entstehen „ich“ und „innen“ und „Subiect“ auf der einen und „ihr“ und „außen“ und „Obiect“ auf der anderen Seite. Woher wissen wir aber, dass wir in Wahrheit nicht alle Teile eines höheren Wesens sind, das wir nicht sehen oder fühlen können?“
„Wir wissen dies nicht. Aber das will ich auch gar nicht wissen. Ich halte mich an das, was ich weiß.“, bekannte Werner.
„Allso an Nichts?“, bohrte Hans mit theat’ralisch skeptisch verzogenem Munde und zog derweil eine Augenbraue nach oben.
„Wieso? Was du sagst, ist doch auch bloß Theorie!“
„Mag seien. Aber eine, um deren Erhalt ich nicht ängste. Du aber bist in steter Angst um deine. Und wenn ich nun sage, dass ich durch denkendes Beten und betendes Denken der Angst auf den Grund gekommen bin, dann g’laubt mir das vermutlich niemand.“
„G’lauben täten wir das vermutlich recht gern, wenn wir nur erst wüssten, was du darmit meinst, lieber Hans.“
„Das Denken verbleibt zunächst in den erlernten Bahnen und ist so nur ein Wiederholen des bereits Gedachten in dessen Gedächtniss. Dann bekommt das Denken Fragen, die nur begrenzt aus dem Erlernten und bereits Gedachten zu beantworten sind. Manches wird aus der Erfahrung erdenklich, Anderes nur aus der Versenkung in die Tiefe der Worte hinein. Dort aber etwas zu finden, ist, wenn es über das bis lang Erfahrene und Gefunden hinausreicht, entweder poetisch ersonnen, dünkelhaft ersponnen oder aber vom Geiste gegeben. So, vom Geiste her, ist es mir geschehen. Die Angst empfand ich zuvor oft und innig und versuchte vergeblich, ihr zu entkommen, sei es durch Flucht, sei es durch Verdrängung, sei es durch Angriff. Dann aber ging ich ohne Abwehr oder Zorn durch sie hindurch und fand ihren Grund, der kein wahrer Grund war. Dieser Grund ist das Werten, mein deutendes Werten am Maßstabe des verletzlichen, ohn-mächtigen Körpers, der als Träger des Iches leben soll. So geschieht in dem Grunde, der mich als „Ich“ erfunden hat, ein Deuten, das zu einer Welt gefügt wird, deren Mitte das erfundene Ich einnimmt, das sich vor der Wahrheit ängstet, die Vergebung, sprich: Niederlegung des Iches fordert. Auch all die Menschen, die in ihrem Weltdeutungsgefüge keinen Platz der Vergebung einräumen, weil sie auch keiner Wahrheit jenseits ihrer Welt ein Wort gewähren, sind in steter Angst und suchen darfür „Gründe“ außerhalb ihres Deutens. Sie sind in der Heiden Angst. Und all ihr Zorn wider die Bösen, die Verbrecher und Ungeheuer, ist diese Angst, die sich mit der Kappe der vermeintlich gerechten Empörung verkappt und gegen Bemerktwerdung zu verbergen sucht, um nur ja nicht in ihrem ungeheilten Denken den Fehler zu finden und dann der Heilung hingeben zu müssen, die ihrem Hochmute nicht gefällt.“
„Oh, willst du sagen, ich sei hochmütig? Nein, das willst du nicht. Und ich zürne doch auch nicht, lieber Hans! Und ich bin doch nun auch nicht gerade in steter Angst. Jetzt in diesem Moment bin ich ohne Angst.“
„Du empfindest sie nicht, weil sie dir als dem Bewissenden gerade nicht eröff’net worden ist oder wird. Aber sie lauert nur darauf, dich zu packen und zu schütteln und sich in Zorn zu verwandeln. Sollen wir das mal versuchen?“
Und Werner blickte in Hansens Augen, ob er das wohl ernst meine, und sah zwar um die Augen eine ebenmütig freundliche Miene, wollte aber angesichts der unberechenbar bodenlosen Tiefe in diesen Augen lieber nichts vom Zaune brechen.
„Nee, danke, besser nicht. Nachher gelingt dir das noch. Jan, schenke mir doch lieber noch mal ein, bitte!“
„Siehst du? So sicher bist du allso nicht, dass die Angst nicht doch stets in dir sei. Und so stets ist auch die Schuld in dir. Sie sind wie Vulcane, die immer wieder ausbrechen. Wer wollte ernstlich sagen, ein Vulcan sei nur dann dar, wenn er gerade ausbreche? Er ist immer dar, auch wenn er lange, lange nicht ausbricht. Aber er wird es. Irgend wann.“
 „Jo, Hans. Mag seien. Dann trinken wir lieber schnell vorher noch einen!“
„Jo, Werner.“, mischte ich mich ein. „Und denn könnten wir vielleicht darbei bedenken, was denn von uns üb’rig bliebe, wenn wir das Ich, die Angst und die Schuld abzögen? Ich meine darmit, dass es doch nicht so einfach ist, dass wir all unsere Denkfehler subtrahierten und wir dann als vergeben Habende in wahrer Seelenreinheit üb’rig wären. Diese Vergebung, Hans, ist doch nicht einfach eine wenn auch scharf- und feinsinnig entworfene Theorie. Wie innig g’lauben wir doch an die wenn auch nur vermeintliche Wahrheit unserer von „innen“ bewegten Körper! Und wir erfanden doch uns als „Ich“ nicht wissentlich. Wenn allso eine Erfindung vorliegt, wer war denn ihr Erfinder? Waren wir das? Aber „wir“ im Sinne der „Iche“ waren doch noch nicht erfunden worden, sondern warden gerade erfunden! Vom wem allso? Wie sollen wir denn aber den auf solch unklarer Grundlage erwachsenen Glauben an uns als „ich“ und bewegten Körper denn so mal eben vergeben?“
„Na, ja, wenn es klang, als meinte ich es so einfach, dann bitte ich Euch um Entschuldigung. Ich legte allerdings nur die theoretische Seite der Sache des zu Vergebenden auf. Aber bevor wir vergeben können, müssen wir doch zuerst wissen, was wir vergeben sollen, nicht?“
„Gut, aber das Wie des Vergeben-Könnens finde ich mindestens eben so wichtig, Hans.“
„Ja, einverstanden. Und wie können wir allso vergeben? Weißt du es?“
„Wir als je „Ich“ können nicht vergeben. Wir können, wie du es vorhin so schön differenziertest, ver-zeihen, allso Anklage fort-zeihen, und immer wieder ein Auge zudrücken, aber ganze Vergebung ist aus unserem Denken allein nicht möglich. Und wir als von uns erfundene Iche können das noch weniger. Nur der vor-nehme Hieronymus Karl Friedrich Freiherr von Münchhausen vermochte sich aus eigener Kraft aus dem Sumpfe zu ziehen. Wir hingegen vermögen einzig mit unserem Nächsten gemeinsamm aus der Schwerkraft der Welt nach oben hinausgelangen. Mir sagte einst der einzige Christ, den ich kenne, und der erstaunlich liebevoll war und ist, ich möge die Unschuld meines Nächsten schauen und ich erkennte so meine. Aber die Unschuld meines Nächsten könne ich einzig dann schauen, wenn ich nicht alleine auf ihn blickte und sähe, sondern in der Hingabe oder Hingegebenheit an die höhere Liebe schaute, die alles seg’ne und nichts verurteile. Ihm, meinem Nächsten, solle ich einen Platz in unsrem großen gemeinsammen Werden mit mir gewähren, das trotz all unserer Fehler und Unbotmäßigheiten von der Liebe fehlerlos und fehllos getragen werde.“
„Der einzige Christ, den du kennst? Lebst du denn als Eremit? Diese Christen weilen aber doch zu Tausenden all über all hier!“, staunte Werner.
„Christen? Oho! Du meinst wohl ‚Katholiken’ oder ‚Evangelen’ oder ‚Orthodoxe’ oder ‚Zeugen Jehovas’ oder ‚Mormonen’ oder ‚Baptisten’ oder ‚Neu-Apostolen’ oder ‚Adventisten’ oder eine sonstige Freikirchanhängerschar? Man kann ein guter Protestant oder ein guter Kathole seien, ohne deswegen zwingend ein Christ zu seien. Du musst dich nur taufen lassen, sonntags in die Kirche gehen und dort alle angesagten Texte kritiklos mit herunterleiern, fein Kirchensteuer zahlen, dich kirchlich vermählen lassen, deine lieben Kinder taufen lassen und keine weltlichen Verbrechen be-gehen, dann bist du schon ein guter Katholik oder Evangele, aber bist du dann schon jemand, der den Christus erkennt und allso weiß, was Wahrheit, Vergebung und Unschuld sind? Noch lange nicht! Die Kirchen sind gefüllt mit Leuten, die keine Christen sind, obwohl sie das nicht wissen und im Gegenteile g’lauben, sie seien welche. Hingegen sind die Vergebung und die daraus erwachsene Unschuld von ihnen nicht erschlossen worden. Wir aber möchten bei uns darmit beginnen, wenn wir all dies einsähen und die Vergebung in Seinen Willen einwilligend wollten.“
„So habe ich das noch nicht gesehen!“, bekannte Werner.
„Ich finde das aber gut. Das ist groß und schön und wahr. Lasst uns darauf anstoßen, Freunde!“, sprach Hans in ungeheuchelter Begeistung und hob sein Glas.
Und Jan schenkte uns Allen noch eine Runde ein.